23. April 2020

Über die politische Dimension der Quarantäne – ein Blick zurück Über die politische Dimension der Quarantäne – ein Blick zurück

Die Geschichte der Quarantäne ist eine Geschichte der Macht und Fremdenfeindlichkeit. Darüber reflektiert Dr. Lisa Hellman, Wissenschaftlerin am Exzellenzcluster "Beyond Slavery and Freedom" der Universität Bonn, in ihrem Beitrag zur Reihe "Lebenszeichen".

Pestepidemie in Marseilles
Pestepidemie in Marseilles - Chevalier Roze à la Tourette zeigt die Auswirkungen der Pestepidemie in Marseilles im Jahr 1720. Gemälde von Michel Serre (1658–1733). Das Gemälde hängt heute im Musée Atger in Montpellier. © Chevalier Roze à la Tourette zeigt die Auswirkungen der Pestepidemie in Marseilles im Jahr 1720. Gemälde von Michel Serre (1658–1733). Das Gemälde hängt heute im Musée Atger in Montpellier.
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Text: Dr. Lisa Hellman

 

Die derzeitige Situation ist außergewöhnlich, ein Moment ohne Gleichen. Und doch haben wir das alles schon einmal gesehen: auf Schwarzweißbildern während der Spanischen Grippe oder in Form von pinguinähnlichen, historischen Pestschutzanzügen in Museen. Beides bezeugt den Einfallsreichtum der Menschen, sich vor Krankheiten zu schützen. Zugleich zeigt der Blick in die Geschichte aber auch, wer den Preis in solch außergewöhnlichen Zeiten zu zahlen hat.

Die Argumente, warum eine Quarantäne 40 Tage dauern soll, variieren. Einige beziehen sich auf Hippokrates' Theorien über 40 Tage als Wendepunkt für Krankheiten. Andere halten den Grund für biblisch: Als Gott die Erde überflutete, regnete es 40 Tage und 40 Nächte, und Jesus fastete 40 Tage in der Wüste. Sicher ist, dass das Konzept der Trennung von gesunden und kranken Menschen in Europa bis in die Antike zurückreicht. Doch Epidemietheorien gab es auch über Europa hinaus: Der Ausbruch der Pest genauso wie unterschiedliche Quarantänepraktiken wurden zum Beispiel auch im alten China ab 1000 vor Christus aufgezeichnet. Seit mehreren Jahrtausenden gibt es also Zeugnisse über die Isolation genauso wie über die Beobachtung und Heilung von Patienten.

Das Wort „Quarantäne“ spiegelt von Anfang an eine vernetzte Welt wider: Es entstand im mittelalterlichen Venedig. Im Angesicht des Schwarzen Todes gewährte das Handelszentrum einem Rat die Befugnis, Schiffe, Ladungen und Einzelpersonen bis zu vierzig Tage lang in der Lagune von Venedig festzuhalten. Diese quaranta giorni wurden schließlich zu einem quarantinario. Selbst als die Isolationszeit auf dreißig Tage schrumpfte, zu einem trentinario – der ursprüngliche Name blieb erhalten.

Tatsächlich stammt vieles, was wir über Quarantänepraktiken und die Anschauung über ansteckende Krankheiten in der Vergangenheit wissen, aus Seuchenausbrüchen, nicht zuletzt aus dem Ausbruch des schwarzen Todes im 14. Jahrhundert. Das ist an sich ein wenig ironisch. Denn selbst nach fast 670 Jahren Forschung herrscht Uneinigkeit über grundlegende Fragen: Was genau war die Pest? Wo wütete sie? Und wie viele Menschen hat sie tatsächlich getötet? Schätzungen zur Sterblichkeit variieren zwischen 5 und 60 Prozent der Weltbevölkerung – ein enormer Unterschied. Doch eines lehren die Maßnahmen gegen die Pest: Der Kampf gegen die Ausbreitung und Ansteckung war – damals wie heute – ein ständiges Abwägen zwischen den wirtschaftlichen Einbußen des Handels, den Kontakten mit der Umgebung und der Angst vor dem Tod. 

 

Die Geschichte der Quarantäne ist eine Geschichte der Macht und Fremdenfeindlichkeit 

Die Quarantäne ist seit Jahrhunderten sowohl medizinische als auch politische Praxis und wirft ein Licht auf die entscheidende Rolle, die Rasse und Klasse gespielt haben. So offenbart sich derzeit in New York, dass die afroamerikanische Bevölkerungsschicht sowohl wirtschaftlich als auch medizinisch viel stärker vom Corona-Virus betroffen ist als die weiße. Dies ist keineswegs überraschend. Denn mit Blick auf die Geschichte wurden Arme und Minoritäten immer wieder am stärksten von Epidemien heimgesucht und oft auch für ihre Ausbreitung verantwortlich gemacht.

Damit ist Geschichte der Quarantäne neben dem medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt auch eine Geschichte der Macht. Quarantäne-Lazarette wie in Venedig auf der Insel Santa Maria di Nazareth – das heutige Lazzaretto Vecchio – dienten einerseits der Betreuung von Neuankömmlingen. Andererseits hielten sie auch die Einheimischen, die an der Pest erkrankten, von den Gesunden isoliert. Solche Lazarette verbreiteten sich im Laufe der Jahre, aber die damit verbundenen Praktiken unterschieden sich: 1799 wurde in Philadelphia nach einer Gelbfieber-Epidemie ein ähnliches Gebäude mit dem Ziel errichtet, die europäischen Kolonisten zu schützen, anstatt die Gesundheit der Versklavten zu gewährleisten. Es galt, die wirtschaftliche Nachhaltigkeit des Sklavenhandels aus epidemiologischer Sicht zu sichern.

Mit der Zeit verwoben sich Quarantäne-Aufforderungen immer häufiger mit Fremdenfeindlichkeit. Als 1892 Schiffe mit russisch-jüdischen Einwanderern über Ellis Island in die USA kamen, an deren Bord Passagiere mit Typhus- und Cholera-Erkrankungen waren, folgte eine Welle des Antisemitismus. Selbst die New York Times forderte auf ihrer Titelseite: „Wir brauchen diese Art von Gesindel an unseren Ufern nicht.“ Um 1900 gerieten auch chinesische Staatsbürger in San Francisco unter Beschuss. Aus Angst vor der Beulenpest wurde ein zwölf Blöcke umfassender Straßenabschnitt in Chinatown für einige Tage vollständig unter Quarantäne gestellt, sodass viele chinesische Arbeiter ihren Arbeitsplatz verloren. Dies führte zu heftigen öffentlichen Diskussionen über Massendeportationen chinesischer Bürger.

In ähnlicher Weise wurden Quarantänevorschriften benutzt, um schwarze Mitbürger in den USA einzuschränken. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verabschiedeten viele US-amerikanische Südstaaten die sogenannten Seamen Acts, die freien schwarzen Seeleuten das Aussteigen von Bord untersagten. Diese Vorschriften stigmatisierten die schwarzen Seeleute als „gefährliche Außenseiter“. Ihre Anwesenheit – so wurde argumentiert – würde in den Sklavenregionen des Südens „Aufregung von außen“ hervorrufen. Jede Form von Rassenunruhen und Sklavenaufständen führte man auf ihre „moralische Ansteckung“ zurück. Dass man die Seamen Acts auch als „Quarantänen“ bezeichnete, verdeutlicht inwieweit Vorstellungen von Ansteckung weit über rein körperliche Krankheiten hinausgehen kann.

Ansteckungsideen und Isolationsmaßnahmen können allerdings auch eine geschlechtsspezifische Dynamik haben. In Großbritannien stellte der Hafen im 18. Jahrhundert die Stärke der Nation dar: sowohl als Seemacht, als auch als Ort des wirtschaftlichen Wohlstands. Andererseits war der Hafen ein Ort der Schwäche, der England anfällig für Krankheiten machte. Die Bewegungen der Seeleute wurden deshalb als Bedrohung für die kollektive Gesundheit der Nation empfunden, weshalb es Forderungen gab, sowohl die Seeleute als auch die Frauen, mit denen sie interagierten, unter Quarantäne zu stellen. Die Angst vor der Übertragbarkeit von Pest und Syphilis führte zu Spannungen entlang der Klassengrenzen. Es wurde postuliert, dass die Beziehung zu Prostituierten die ansonsten reine häusliche Sphäre mit „abscheulichen Krankheiten“ verseuche und damit das Wohl und die Zukunft der Nation gefährde.

Ähnlich brandmarkte man im Ersten Weltkrieg sogenannte „Lagermädchen“ in den USA. Als immer mehr US-amerikanische Soldaten an Geschlechtskrankheiten litten, wurde ihnen die Schuld daran gegeben. Sie wurden zu Geschlechtskrankheitstests gezwungen und massenhaft eingesperrt, da man in diesen Frauen eine ernsthafte Bedrohung für den Erfolg im Krieg sah. So sperrte man in den USA mehr als 30.000 Prostituierte ein, selbst als festgestellt wurde, dass sie frei von Krankheiten waren.

All diese Beispiele zeigen, dass Quarantänemaßnahmen schon immer ein Politikum waren und es bis heute sind. Meist diente die Quaratäne der Isolation einzelner Bevölkerungsschichten – das ist heute zum Glück nicht mehr der Fall. Doch gerade deshalb sind die folgenden Fragen elementar und bedürfen einer immer wieder neuen Begutachtung: Wer kann unter Quarantäne gestellt werden, wer muss es? Wer muss geschützt werden und wen kann man womöglich schutzlos lassen? Wessen Bewegung kann eingeschränkt werden und wenn ja zu welchem Preis? Ist grenzüberschreitendes Reisen eine Bedrohung oder eine Möglichkeit? Unterzieht man diese Fragen keiner regelmäßigen Neubewertung und ihre Antworten nicht regelmäßigen Anpassungen, wird unsere Gesellschaft in ihren Grundwerten erschüttert. Ansteckende Krankheiten und insbesondere Pandemien setzen eine Gesellschaft unter Druck. Die Art und Weise, wie wir in solchen Situationen agieren, bringt somit nicht nur die Werte und Ressourcen einer Gesellschaft zum Vorschein, sondern auch die Risse und Ungleichheiten tief in ihrem sozialen Inneren.

 

Die Autorin

Dr. Lisa Hellman ist Research Group Leader im Exzellenzcluster "Beyond Slavery and Freedom" in der Forschergruppe "Coerced Circulation of Knowledge". Kontakt: lhellman@uni-bonn.de
 

 

Das Exzellenzcluster

Bisher hat sich die Abhängigkeitsforschung fast ausschließlich mit Sklaverei auf dem amerikanischen Kontinent oder in der Antike befasst. Das Exzellenzcluster "Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS)" will diese Perspektive inhaltlich, räumlich und zeitlich erweitern. Der Verbund strebt danach, ein international sichtbares und renommiertes Zentrum der Abhängigkeits- und Sklavereiforschung zu werden. Sein Hauptbeitrag wird darin bestehen, einen außergewöhnlichen Verbund an akademischen Disziplinen zusammenzubringen. Mit ihrer großen Bandbreite an sogenannten Kleinen Fächern ist die Universität Bonn dafür bestens geeignet.

 

Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch! 

Das Dezernat für Hochschulkommunikation veröffentlicht unter dem Titel: „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch!“ Beiträge aus der Universität Bonn, die unter dem Eindruck der Bekämpfung des Coronavirus und der daraus resultierenden Bedingungen entstanden sind. Als Bildungseinrichtung will die Universität Bonn damit auch in schwierigen Zeiten im Diskurs bleiben und die universitäre Gemeinschaft fördern. In loser Folge erscheinen dazu auf der Website der Universität Bonn Beiträge von Universitätsangehörigen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, Dialoge in Gang setzen, Tipps und Denkanstöße austauschen wollen. Wer dazu beitragen möchte, wendet sich bitte an das Dezernat für Hochschulkommunikation, kommunikation@uni-bonn.de.

 

 

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