12. Mai 2020

COVID-19: Über die Notwendigkeit europäischen Zusammenhalts COVID-19: Über die Notwendigkeit europäischen Zusammenhalts

Die Corona-Pandemie rollt über den Kontinent, aber wo ist Europa? Ist sich in der Krise jeder Mitgliedsstaat selbst der Nächste, oder ist am Ende doch die Europäische Union der Schlüssel zur Bekämpfung der unsichtbaren Bedrohung? Der Bonner Student Florian Maiwald meldet sich mit einem "Lebenszeichen" zum europäischen Zusammenhalt zu Wort.

Florian Maiwald
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Text: Florian Maiwald


Bedingt durch die Corona Pandemie scheint das Konzept europäischer Solidarität erneut auf die Probe gestellt zu werden. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Aber ist das der richtige Weg? Zurückfallen in nationale Egoismen unter dem Vorwand, dass es anders einfach nicht möglich ist?

In seinem Buch Europa in der Krise macht der deutsche Politiker Günter Verheugen auf folgendes aufmerksam: „Europa ist der gelebte Widerspruch. Große, kühne Ideen wurden auf diesem Kontinent geboren. Aber nirgendwo gab es auch mehr Barbarei und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. […] Europa kann stolz für sich in Anspruch nehmen, die Wiege der Demokratie zu sein. […] Europa wird sich behaupten, im Widerstreit dieser verschiedenen Erfahrungen, […] gegründet auf den gemeinsamen Willen zu Zusammenarbeit, auf gemeinsame Geschichte, die nicht zu teilende Erinnerungen in sich birgt, was angenommen und verstanden werden muss. Kein anderer Traum von Europa hat eine bessere Chance.“ (2005, 33-34).

Verheugen weist hier auf einen essentiellen Aspekt hin, welcher sowohl den Ursprung der Stärken, als auch der Schwächen der EU darstellt. Es ist das gelebte, dynamische Zusammenspiel an Widersprüchen, aus welchen sich letztendlich die Einigung – und damit einhergehend- die Kraft der europäischen Vereinigung speist. Trotz der Heterogenität historischer Prägungen und Erinnerungen, trotz der Verschiedenheit an Wertvorstellungen, gibt es dennoch eine Gemeinsamkeit an normativen Grundausrichtungen. Oder ganz einfach ausgedrückt: Es gibt eine europäische Wertegemeinschaft und ihre Verteidigung scheint unter den derzeitigen Umständen wichtiger denn je! Denn eine auf Kooperation basierende Handlungsfähigkeit kann nur auf dem Fundament einer gemeinsamen Wertebasis erfolgen. Das Problem scheint weniger darin zu liegen, dass dieses Fundament nicht vorhanden ist, sondern, dass alle europäischen Staaten - in gemeinsamer Kooperation - sich endlich dazu durchringen sollten dieses normative Fundament zu achten. Verheugen fügt hinzu:
„Die Vereinigten Staaten von Europa sind eine schöne Vision, aber eben nur eine Vision“ (ebd., 35).

Hier sei Verheugen jedoch klar zu widersprechen. Ohne die Komplexitäten, welche eine praktische Realisierung einer derartigen Idee mit sich bringen mag, außer Acht zu lassen, sollte die Idee selbst jedoch nicht aufgegeben werden. Die Evidenz für diese Annahme scheint sich nicht nur durch die jüngsten Transformationsprozesse von China, Russland und den USA zu bestätigen, sondern umso mehr durch die derzeitige Situation, welche sich dadurch auszeichnet, dass die gesamte Welt durch ein Virus in eine Art Ausnahmezustand versetzt wird.
In seinem großartigen Beitrag Die vier gebrochenen Gebote in Zeiten von Corona. Welche Wege sie eröffnen und warum es nach Corona kein Zurück geben darf – Eine Ermunterung, die Krise zu nutzen hebt Johannes Bohun treffend hervor: „Doch in all diesem alptraumhaft anmutenden system meltdown steckt auch etwas seltsam Erfrischendes. Die Börsen ächzen, doch der Planet atmet auf. Es ist, als wäre jeder Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes gezwungen, innezuhalten, und die Realität aus neuem Blickwinkel zu betrachten.
Es herrscht eine ungewöhnliche Ruhe auf den Straßen, während die Wirtschaftsmaschine weitgehend stillsteht und von Regierungsseite Hilfspakete in Marshallplan Dimensionen geschnürt werden. Wir erleben tatsächlich einen drastischen Paradigmenwechsel: Überleben ist nun offiziell wichtiger als das Brummen der Megamaschine, wichtiger als Profit und Rendite. Und mehr noch: Auf wissenschaftlichen Fakten beruhendes Handeln der politischen Eliten scheint – zumindest auf Zeit – soeben die globale Norm geworden zu sein. Ideologie wird den Tatsachen hintangestellt- ohne Schielen auf die Wiederwahl. Wie Dominosteine scheinen die Tabus zu fallen“
(2020, 1-2).

All die Prämissen und Hypothesen, welche zuvor als deterministischer Legitimationsansatz für unsere profitgesteuerten Wirtschaftssysteme herhalten mussten, drohen derzeit widerlegt zu werden. Das Paradigma des grenzenlosen Wachstums und der Ausbeutung unseres Planeten – welche letztendlich in einer ökologischen Katastrophe endet – wird derzeit durch das Paradigma des nackten Überlebens ersetzt. Dies erfordert die Solidarität der Menschen untereinander. Auch auf europäischer Ebene scheint eine derartige Solidarität, welche das Leben und die Würde des Einzelnen in den Vordergrund stellt, wichtiger denn je. Blickt man zurück in die jüngste Geschichte so ließ sich ein klar erkennbares Demokratiedefizit nicht übersehen, welches sich u.a. durch das diabolische Zusammenspiel von IWF, EZB und der europäischen Kommission und den daraus resultierenden Austeritätsmaßnahmen gegenüber finanziell schwächeren EU-Staaten auszeichnete.

Das Ziel der wertebasierten Vereinigung schien durch eine genuin ökonomische Form der Interessenvereinigung ersetzt zu werden. Im Moment wird der ökonomische Dogmatismus jedoch - zumindest vorübergehend- außer Kraft gesetzt, wodurch sich im Umkehrschluss die Chance bietet, nach geeigneten Alternativen zu suchen. Diese Alternativen sollten vor allem in dem Versuch bestehen - auf Basis der Anerkennung unserer europäischen Wertegemeinschaft - wenn nicht auf globaler, so doch auf europäischer Ebene die Krise zu koordinieren und gemeinsame Lösungsansätze auszuarbeiten.

Oftmals wird die COVID-19-Pandemie gerne und schnell mit dem Klimawandel verglichen. Vor allem scheint es zu erstaunen, dass viele Staaten plötzlich Handlungsfähigkeit besitzen, während sich Diskussionen um den Klimawandel bis ins Unendliche hinausziehen. Die Fetischisierung des Ökonomischen scheint sich plötzlich in eine Fetischisierung des Wissenschaftlichen umzuwandeln (während dies in Diskussionen um den Klimawandel eher umgekehrt der Fall ist, d.h. es besteht eine Fetischisierung des ökonomischen Dogmas, während wissenschaftliche Evidenzen vielerorts mit Gleichgültigkeit betrachtet werden).

Dennoch lässt sich die sofortige Handlungsbereitschaft der Menschen im Hinblick auf die derzeitige Situation erklären, denn die Unmittelbarkeit der derzeitigen Situation fordert ein unbedingtes Handeln, oder anders formuliert: ein Handeln, das nicht an Bedingungen geknüpft ist. In ihrer Unmittelbarkeit kann die derzeitige Katastrophe nicht über einen dritten Faktor – namentlich den Zeitabstand vom Gegenwärtigen zum Zukünftigen – aus einer mittelbaren Distanz betrachtet werden. Auch wenn der Klimawandel bereits die indirekten Vorboten der Gesamtbedrohung einer ökologischen Katastrophe deutlich werden lässt, wird uns im Hinblick auf COVID-19 das Ausmaß und die Direktheit der gegenwärtigen Problematik bewusst – wodurch wir nicht zuletzt zu einer unbedingten Form des Handelns veranlasst werden, welche das kantische Vernunftsubjekt in seiner praktischen Selbstrealisierung als notwendig gegeben voraussetzen.

Der deutsche Philosoph Karl Japsers hat in seinem Buch Was ist Philosophie? bereits treffend angemerkt: „Erst die Unedingtheit des Guten erfüllt die bloßen Pflichten mit Gehalt, kann die sittlichen Motive zur Reinheit läutern[…]“ (1976, 66).

Jaspers unterscheidet zwischen bedingten – moralisch verwerflichen – und unbedingten – moralisch integren–   Handlungen. Die Akuität der derzeitigen Situation erfordert ebenjenen Charakter des Unbedingten, welcher das Fundament unseres Handelns auf europäischer Ebene darstellen sollte. Moralisch verwerfliche Bedingungen wie die des neoliberalen Profitstrebens dürfen nicht von den wirklich wichtigen Dingen ablenken, welche es derzeit zu bewältigen gilt. Mehr denn je scheint eine gemeinsame europäische Lösung der Krise erforderlich. Und wir täten gut daran, auch für zukünftige Krisen aus der derzeitigen zu lernen.

 

Der Autor

Florian Maiwald studiert an der Universität Bonn Philosophie, Englisch und Bildungswissenschaften im Master. Kontakt: s5flmaiw@uni-bonn.de

Florian Maiwald 

Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch! 

Das Dezernat für Hochschulkommunikation veröffentlicht unter dem Titel: „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch!“ Beiträge aus der Universität Bonn, die unter dem Eindruck der Bekämpfung des Coronavirus und der daraus resultierenden Bedingungen entstanden sind. Als Bildungseinrichtung will die Universität Bonn damit auch in schwierigen Zeiten im Diskurs bleiben und die universitäre Gemeinschaft fördern. In loser Folge erscheinen dazu auf der Website der Universität Bonn Beiträge von Universitätsangehörigen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, Dialoge in Gang setzen, Tipps und Denkanstöße austauschen wollen. Wer dazu beitragen möchte, wendet sich bitte an das Dezernat für Hochschulkommunikation, kommunikation@uni-bonn.de.

 

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