Wie funktionierten soziale Zugehörigkeiten und Vertrauen in einer Gesellschaft, die durch soziale Hierarchien, starke asymmetrische Abhängigkeiten und gewaltbasierte Ungleichheit gekennzeichnet war? Dieser Frage geht das internationale Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Dries Lyna (Radboud-Universität Nijmegen), Dr. Eva Marie Lehner (Universität Bonn) und Dr. Wouter Ryckbosch (Universität Ghent) an dem Beispiel des frühneuzeitlichen Kapstadts Mitte des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts nach.
Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, wie sich einzelne Mitglieder der vielfältigen städtischen Unterschicht sowohl in informellen Netzwerken als auch innerhalb formeller Institutionen strategisch positionierten. „Kapstadt war und ist eine wichtige Hafenstadt im Indischen Ozean. Wir finden Soldaten und Matrosen aus den Niederlanden, Deutschland, Schweden und dem Baltikum in den Quellen, aber auch versklavte Menschen aus Asien und Ostafrika, die nach Kapstadt verschleppt wurden sowie Kinder, die aus Verbindungen zwischen europäischen Männern und versklavten Frauen hervorgingen“, sagt Dr. Eva Marie Lehner, die auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Present Pasts“ der Universität Bonn ist. „Diese kosmopolitische Unterschicht vernetzte sich – das setzte Vertrauen voraus. Wir digitalisieren unterschiedliche historische Quellenbestände, um anhand dieser herauszufinden, wie Kredite vergeben oder verwehrt wurden, wie Frauen und Männer Zeugen fanden, um für sie vor Gericht auszusagen oder Taufpaten für ihre Kinder zu werden.“
Um die komplexen Narrative über Identität, sozialen Beziehungen und Zugehörigkeiten während der Kolonialzeit zu verstehen, untersuchen die Forschenden, wie bürokratische Klassifizierungen die gesellschaftlichen Strukturen im frühneuzeitlichen Kapstadt prägten.
Versklavte Frauen im kolonialen Kapstadt
Im Teilprojekt ‚In God We Trust?‘ erforscht Julia Schmidt vom Exzellenzcluster Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS) an der Universität Bonn die Unterstützungsnetzwerke lediger Frauen – ob frei, freigelassen oder versklavt – im kolonialen Kapstadt. Versklavte Frauen durften in der Kapkolonie zum Beispiel nicht offiziell heiraten. Sie nehmen im Projekt daher eine besondere Stellung ein. „Mein Ziel ist es, aufzudecken, wie die Lebensrealität dieser Frauen aussah, insbesondere ihre sozialen Netzwerke“, erklärt Julia Schmidt. „Auf wen konnten sie sich verlassen? Von wem Hilfe bekommen? Wie haben sie sich organisiert? Wer fungierte als Taufpate für ihre Kinder?“
Das Projekt erforscht somit komplexe soziale Realitäten in einer Gesellschaft, die stark durch koloniale Behörden, aber auch die Kirche und deren Gemeindestrukturen geprägt war. „Uns interessiert, wie sich diese Frauen innerhalb verschiedener Gemeinschaften positioniert haben und welche Strategien sie in Bezug auf die sozialen Dynamiken und Machtstrukturen des kolonialen Kontexts genutzt haben“, sagt Dr. Eva Marie Lehner.
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