03. Mai 2020

Gelassenheit – trotz allem? Semestereröffnungsgottesdienst an der Schlosskirche aus dem Homeoffice

Semestereröffnungsgottesdienst an der Schlosskirche aus dem Homeoffice

Die Corona-Pandemie hat viele Bereiche des universitären Lebens erfasst. Und so hat kürzlich der erste Semestereröffnungsgottesdienst aus dem Homeoffice stattgefunden. Prof. Dr. Markus Saur von der Evangelisch-Theologischen Fakultät berichtet in diesem "Lebenszeichen", wie es dazu kam.

Prof. Dr. Markus Saur
Prof. Dr. Markus Saur © Foto: privat
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Text: Prof. Dr. Markus Saur

Die jüdisch-christliche Tradition ist seit der Antike nicht arm an apokalyptischen Bildern. Mit Bildern vom kommenden Untergang und der Hoffnung auf eine kommende Welt soll das Leben in der Gegenwart, die vielfach als bedrohlich empfunden wird, erträglich gemacht werden. Wer die jüdischen und christlichen Apokalypsen zur Hand nimmt, findet dort zeitliche Abläufe und farbige Ausmalungen der letzten Phasen der Weltgeschichte – und am Ende immer die Erwartung einer glänzenden Zukunft für diejenigen, die auf der richtigen Seite stehen.

Theologie als Wissenschaft untersucht die Entstehung und historischen Hintergründe solcher Texte und versucht, sie in ihre Kontexte einzuordnen. Dabei fällt auf, dass apokalyptisches Denken nicht nur in der Gegenwart, sondern bereits in der Antike Befremden auslösen konnte. Neben apokalyptischen Vorstellungen überliefert die Hebräische Bibel, das Alte Testament, auch theologische Stimmen, die gerade nicht auf einen Untergang hoffen, sondern die Stabilität und Beständigkeit der Welt betonen. So erzählt etwa die Sintflutgeschichte davon, dass der Weltuntergang nicht bevorsteht, sondern bereits Vergangenheit ist: Nach der großen Flut gibt es keinen weiteren Weltuntergang mehr. Die hebräischen Texte stehen mit dieser Fluterzählung in einer langen Tradition altorientalischen Denkens, das mit der Beständigkeit der Welt rechnet und diese Stabilität auch zu feiern weiß.

Eine besondere Position nimmt in diesem Diskurs die Stimme eines Denkers ein, der in seinem Buch als ‚Kohelet‘ bezeichnet wird. Martin Luther übersetzt (über den Umweg der lateinischen Tradition) diesen hebräischen Begriff mit ‚Prediger‘. Dieser Denker aus dem hellenistischen Juda tritt ganz entschieden gegen das aufkommende apokalyptische Denken ein und betont, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe, sondern die Erde auf ewig Bestand habe. Aus dieser Überzeugung heraus entwickelt er eine Haltung zum Leben, die um dessen Grenzen weiß, innerhalb dieser Grenzen aber Gestaltungsräume des Menschen erkennt und dazu aufruft, diese Räume zu nutzen und das Leben zu einem gelingenden Leben zu machen. Gegenüber der Apokalyptik ist Kohelet damit durch eine große Gelassenheit bestimmt – und sein Denken gehört in gleicher Weise zum antiken Erbe von Judentum und Christentum wie auch die Apokalyptik. Nur wer die Vielfalt der Stimmen aus dieser breiten Tradition zu Wort kommen lässt, vermeidet Verkürzungen und Entstellungen.

Die Erforschung Kohelets und der sogenannten weisheitlichen Traditionen gehört an der Evangelisch-Theologischen Fakultät zu einem der Arbeitsschwerpunkte. Neben der wissenschaftlichen Arbeit an der Weisheitstradition soll Kohelet in diesem Sommersemester aber auch in einer Gottesdienstreihe in der Schlosskirche Gesprächspartner sein. Die Reihe steht unter dem Titel „Gelassenheit – trotz allem?“ und wird von Professor Eberhard Hauschildt, dem evangelischen Universitätsprediger, organisiert.

Den Eröffnungsgottesdienst hat Prof. Dr. Markus Saur, Alttestamentler an der Evangelisch-Theologischen Fakultät, vorbereitet. Der Gottesdienst konnte am 19. April allerdings nicht in der Schlosskirche stattfinden – er sollte aber auch nicht ausfallen. Markus Saur hat daher eine Lesefassung und einen Podcast des Gottesdienstes erstellt, die beide im Homeoffice entstanden sind und dennoch die Möglichkeit geben sollen, das Semester mit dem gemeinsamen Nachdenken über einen biblischen Text, in diesem Fall die erste Reflexion Kohelets im ersten Kapitel seines Buches, zu beginnen.

Der Einsicht, dass alles flüchtig und nichtig sei und dass es nichts Neues unter der Sonne gebe, wird in diesem Eröffnungstext die fundamentale Überzeugung zur Seite gestellt, dass die Welt für immer Bestand habe. Einer solchen Überzeugung eines antiken Denkers muss man im 21. Jahrhundert sicherlich in vieler Weise ins Wort fallen – es ist angesichts der ökologischen Gesamtsituation ja keineswegs sicher, dass die Welt für immer Bestand habe, zumindest nicht als Lebensraum für den Menschen. Aber angesichts der konkreten Situation in der Corona-Krise, die ja in einigen Echokammern des Netzes dazu führt, dass der Weltuntergang als unmittelbar bevorstehend proklamiert wird, kann man mit dem Denken Kohelets an der Hand vielleicht doch etwas Abstand gewinnen und sich von einem Denken inspirieren lassen, das nicht bereit ist, sich aus der Gegenwart zu verabschieden und in ihr nur noch Vorboten eines Untergangs zu sehen. Vielmehr muss, so führt es Kohelet ja auch aus, die Gegenwart mit ihren Herausforderungen angenommen werden, um mit der Bewältigung dieser Herausforderungen das Fundament für gegenwärtige und kommende Freude am Leben zu legen.

 

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