20. Oktober 2021

SARS-CoV-2-Verbreitung in Äthiopien stark unterschätzt SARS-CoV-2-Verbreitung in Äthiopien stark unterschätzt

Forschende unter Beteiligung der Uni Bonn legen Ergebnisse einer Verlaufsstudie vor

In einer äthiopisch-deutschen Kooperation haben Forschende des Tropeninstituts am LMU Klinikum München unter Beteiligung der Universität Bonn Blutproben von Gesundheitspersonal und Gemeinden auf Antikörper untersucht. Die Ergebnisse legen nahe, dass die tatsächliche COVID-19-Prävalenz wesentlich höher ist als bis dahin offiziell berichtete Zahlen. Das Forschungsteam empfiehlt daher eine Neuausrichtung der Impfstrategie für Afrika. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „The Lancet Global Health“ erschienen.

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Seit dem ersten berichteten COVID-19-Fall in Äthiopien im März 2020 ist die tatsächliche Verbreitung von SARS-CoV-2 im Land und in Afrika generell weitestgehend unbekannt. Die offizielle Datenlage gibt hierzu bislang wenig Aufschluss. Entgegen Befürchtungen einer humanitären Krise wurden für den afrikanischen Kontinent zu Beginn der Pandemie nur verhältnismäßig wenige COVID-19 (Todes-)Fälle gemeldet. Neuere Studien aber legen nahe, dass die Verbreitung von SARS-CoV-2 bei Beschäftigten im Gesundheitswesen hoch ist (zum Beispiel 41,2 Prozent in der Demokratischen Republik Kongo, 45,1 Prozent in Nigeria). Andere sporadische Berichte geben teilweise noch höhere Zahlen wie 60 Prozent unter Blutspendern in Südafrika an. Es stellt sich die Frage, wie stark der Afrikanische Kontinent tatsächlich durch das Virus betroffen ist – und was das für die Strategien zur Pandemiebekämpfung in Afrika bedeutet.

In einer internationalen Kooperation des Tropeninstituts am LMU Klinikum München und der äthiopischen Partner der Jimma Universität (Jimma Medical Center) sowie des St. Paul's Klinikums in Addis Abeba, führte das Forschungsteam gemeinsam mit dem Helmholtz Zentrum München, der LMU München, der TU München und der Universität Bonn eine Untersuchung zur Verbreitung von SARS-CoV-2 durch.

Antikörperbestimmung und mathematische Modellierung

In ihrer Studie in Äthiopien bestimmten sie Antikörper in Blutproben von medizinischem Personal „an vorderster Front“ (frontline healthcare workers) sowie aus städtischen und ländlichen Gemeinden in Jimma und Addis Abeba. Ziel war es, mit der Kohortenstudie erstmals epidemiologische Daten zur Seroprävalenz (Häufigkeit spezifischer Antikörper im Blutserum) und Seroinzidenz (Anstieg des Anteils Antikörper-positiver Individuen über die Zeit) in Afrika im zeitlichen Verlauf zu erhalten.

Von August 2020 bis April 2021 führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler serologische Untersuchungen von Blutproben von medizinischem Fachpersonal an zwei Lehrkrankenhäusern in der Stadt Jimma und den umliegenden ländlichen Gemeinden sowie in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba durch. Das erfolgte in insgesamt drei Studienrunden.

Darüber hinaus führte die Forschergruppe um Prof. Dr. Jan Hasenauer vom LIMES-Institut der Universität Bonn eine modellbasierte Analyse durch, um das Level der SARS-CoV-2-Herdenimmunität vorherzusagen. Dieses Modell berücksichtigt auch das Auftreten von Virusvarianten.

Dramatischer Anstieg der SARS-CoV-2-Seroprävalenz im zeitlichen Verlauf

Die Ergebnisse zeigten, dass die SARS-CoV-2-Seroprävalenz unter dem medizinischen Personal während des Studienzeitraums dramatisch angestiegen war: Im Klinikum in Addis Abeba verzeichnete das Forschungsteam einen Anstieg von 10,9 Prozent im August 2020 auf 53,7 Prozent im Februar 2021, was auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von 2.223 pro 100.000 Einwohner schließen lässt. In Jimma stiegen die Zahlen bei 30,8 Prozent im November 2020 auf 56,1 Prozent im Februar 2021, dies legt eine Inzidenzrate von 3.810 pro 100.000 Einwohnern nahe. In den städtischen Gemeinden zeigte sich Anfang 2021 ein deutlicher Anstieg der Seroprävalenz auf fast 40 Prozent, was Inzidenzraten von 1.622 entspräche in Jimma und 4.646 pro 100.000 Einwohner in Addis Abeba entspräche. Die Seroprävalenz in ländlichen Regionen stieg von 18 Prozent im November 2020 auf 31 Prozent im März 2021. Damit liegen die Zahlen zur vermuteten Seroprävalenz weit über den gemeldeten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder Johns-Hopkins-Universität (von 290.000 Infektion bei 112 Millionen Einwohnern – dies entspricht einer Prävalenz von 0,26 Prozent, Stand: August 2021).

Neuausrichtung der Impfstrategie für Afrika gefordert

Die Studie veranschaulicht die COVID-19-Infektionsdynamik in einer afrikanischen Bevölkerung anhand der Ausbreitung von SARS-CoV-2 unter medizinischem Personal, in der Stadt und auf dem Land in Äthiopien. Die Ergebnisse deuten auf eine große Infektionswelle in Äthiopien hin, die besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Belastung des Gesundheitssystems und die Kontrolle von COVID-19 Ausbrüchen erfordert. Vor diesem Hintergrund fordert Professor Dr. Michael Hoelscher, Direktor des Tropeninstituts am LMU Klinikum, eine Anpassung der Impfstrategie für afrikanische Länder: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Immunität – durch durchgemachte SARS-CoV-2 Infektionen – in der afrikanischen Bevölkerung viel höher ist als angenommen. Dies ermöglicht es, Impfstoffe effektiver einzusetzen.“ So könne zum Beispiel vor einer Impfung der Antikörperstatus ermittelt und gegebenenfalls nur eine Dosis als Auffrischung verimpft werden. „Zudem ermöglicht dies einen gezielten Einsatz des Impfstoffes, insbesondere bei Risikogruppen und bei älteren Menschen“, sagt Hoelscher.

Verknüpfung von Mathematik und Lebenswissenschaften

Der Forschungsansatz, Mathematik und Lebenswissenschaften zu verknüpfen, gehört zu einem gemeinsamen thematischen Schwerpunkt der Exzellenzcluster ImmunoSensation2 und des Hausdorff Centers for Mathematics (HCM) sowie der Transdisziplinären Forschungsbereiche „Modelling“ und „Life and Health“ der Universität Bonn – fächerübergreifende Verbünde der Exzellenzuniversität, in denen Jan Hasenauer Mitglied ist. Er gehört zur Interdisziplinären Forschungseinheit Mathematik und Lebenswissenschaften, die an der Schnittstelle der Cluster HCM und ImmunoSensation2 etabliert wurde.

Förderung:

Die Studie wurde finanziert durch die Bayerische Staatskanzlei, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das EU-Förderprogramm “Horizon 2020” der Europäischen Kommission, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Volkswagenstiftung.

Publikation: Gudina E K*, Ali S*, Girma E, Gize A, Tegene B, Hundie G B, Sime, W T, Ambachew R, Gebreyohanns A, Bekele M, Bakuli A, Elsbernd K, Merkt S, Contento L, Hoelscher M, Hasenauer J, Wieser A*, Kroidl A*: Seroepidemiology and model-based prediction of SARS-CoV-2 in Ethiopia: longitudinal cohort study among front-line hospital workers and communities, The Lancet Global Health, https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X(21)00386-7/fulltext, DOI:https://doi.org/10.1016/S2214-109X(21)00386-7
*: geteilte Erst- und Letztautorenschaften

Prof. Dr. Jan Hasenauer
LIMES-Institut der Universität Bonn
Tel. +49 228 73 62226
E-Mail: jan.hasenauer@uni-bonn.de

Prof. Dr. med. Michael Hoelscher
Direktor Tropeninstitut (Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin)
LMU Klinikum München
Tel. +49 89 4400-59801
E-Mail: hoelscher@lrz.uni-muenchen.de

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