09. Mai 2022

Leben lernen mit Angst Leben lernen mit Angst

Interview mit Prof. Dr. Franziska Geiser

Viele Menschen erleben in diesen Tagen ein Gefühl der Angst. Erst die Covid-19-Pandemie, jetzt der Krieg in der Ukraine. Doch woher kommt Angst, und was können wir dagegen tun? Dazu befragten wir Professorin Dr. Franziska Geiser von der Medizinischen Fakultät. Sie arbeitet an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn. In einer interdisziplinären Forschungsgruppe forschte sie gemeinsam mit Kolleg:innen aus der Theologie, Philosophie und Palliativmedizin aus Bonn und anderen Universitäten zu „Dynamik von Resilienz in der Lebenskrise: Interdisziplinäre Begriffsklärung und Operationalisierung“.

Angst
Angst © Colourbox.de
Alle Bilder in Originalgröße herunterladen Der Abdruck im Zusammenhang mit der Nachricht ist kostenlos, dabei ist der angegebene Bildautor zu nennen.

 Jetzt das Interview in voller Länge als Podcast anhören

Frau Geiser, haben Sie manchmal auch Angst?

Natürlich. Wenn ich etwa auf einem schmalen Weg wandere, nahe am Abgrund, dann bemerke ich mit zunehmendem Alter Höhenangst. Ich habe ein klopfendes Herz vor Konfliktgesprächen. Ich habe mit Blick auf die politische Weltordnung und Klimakrise auch Angst um unsere Kinder.

Was ist Angst?

Angst ist ein sehr altes, evolutionäres System. Sie ist lebensnotwendig für uns und das Leben unserer Art. Nehmen wir eine Gefahr wahr, signalisiert es uns, dass wir jetzt kämpfen, flüchten oder alternativ erstarren müssen. Sie fährt alle notwendigen Körpersysteme hoch: Das Herz rast. Wir atmen schneller. Unsere Pupillen weiten sich. Kommt z.B. ein Auto auf uns zu, springen wir zur Seite, ohne darüber nachdenken zu müssen. Das ist grundsätzlich hervorragend eingerichtet, weil es unser Leben retten kann.

Physisch bedrohliche Situationen sind in unserem (westlichen) Alltag aber heute eher selten. Wir begegnen Angst eher im sozialen Raum: Etwa dem genannten Konfliktgespräch, oder bei Versagens und Prüfungsangst. Vor einem wichtigen Gespräch nützen uns nun ein rasendes Herz oder schweißige Handflächen aber nicht viel. Vor Prüfungssituationen kann die Angst mich zwar motivieren, zu lernen. In der Situation selbst erleben wir sie oft aber als behindernd. Weil es eine besondere Leistung unseres Gehirns ist, dass wir in Symbolen denken können, können wir mit Ängsten auch auf entfernte oder abstrakte Vorstellungen reagieren. Das hilft, vorausplanend zu handeln, aber es erweitert die Quellen unserer Ängste. Wir können uns alles Mögliche vorstellen, und leider entspricht das Ausmaß der Angst dann eher nicht der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses. Wichtiger für unser Gefühl ist, wie emotional bedrohlich wir eine Vorstellung finden (z.B. vom Chef kritisiert zu werden), und wieviel Raum diese Angst in unserem Leben bekommt. Angst neigt dazu, den Raum einzunehmen, den sie bekommt: wenn ich ein grundsätzlich eher ängstlicher Mensch bin, habe ich mehr inneren Raum für Angst. Wenn ich mit vielen anderen Dingen beschäftigt bin, rutscht eine bestimmte Angst hingegen vielleicht in den Hintergrund. Wenn das Angstsystem bei einem Menschen so empfindlich ist, dass es deutlich zu oft oder zu stark reagiert, oder sich nicht mehr beruhigen lässt, sprechen wir von einer Angststörung.

Wie behandelt man Angst?

Wer keine Angststörung hat, kann Ängste wegschieben. Wir sind meist ziemlich gut darin, auf parallelen Gleisen im Kopf zu wechseln: Auf dem einen kommt Angst auf, entweder wegen eines akuten Ereignisses, oder, wenn man an etwas Bedrohliches erinnert wird. Dann kann man sich entscheiden: ich werde aktiv, versuche etwas zu verändern. Wir können aber auch auf das andere Gleis und zum Alltagsleben zurückkehren, wenn wir realisieren: Okay, diese Angst bedroht mich jetzt nicht unmittelbar. Dann können wir uns ablenken oder abschalten.

Dass wir das können, ist wichtig. Wir müssen uns auch nicht fürs Abschalten schämen, etwa wenn wir auf die Ukraine blicken, und einerseits vielleicht spenden oder helfen, aber gleichzeitig auch Schönes für uns selbst weitermachen. Das ist biologisch durchaus so vorgesehen, damit wir unser Leben weiterleben können. Wenn man sich nicht ablenken kann, und das Angstsystem ständig anspringt, obwohl keine Bedrohung unmittelbar vorliegt, dann kann es sich um eine Angststörung handeln. Dann hilft Psychotherapie.
Sollten wir mit Blick auf andere Krisen Angst haben?

Beim Angriffskrieg in der Ukraine empfinden wir meist erst einmal Mitgefühl mit den Menschen, die betroffen sind. Wir erschrecken auch vor Bildern von Gewalt. Angst im engeren Sinne entsteht meist mit Blick auf uns selbst: Könnte der Krieg auch zu uns kommen? Welche Folgen für das Leben in Europa wird das haben? Angst ist ja, wie gesagt, ein sinnvoller Hinweis auf eine mögliche Bedrohung, die es zu prüfen gilt. Wenn sich bestätigt, dass eine Bedrohung vorliegt, dann, brauchen wir sogar die Angst als einen Antrieb (neben anderen Gefühlen wie Empathie oder Gerechtigkeitsempfinden), um ins Handeln zu kommen. Das gilt nicht nur für den Krieg in der Ukraine, sondern z.B. auch für die Klimakrise. Greta Thunberg hat nicht unrecht, wenn sie sagt „Ich will, dass ihr Angst spürt.“

Wie gehen wir mit Ängsten um?

Wir können zunächst einmal anerkennen, dass Krisen etwas Normales sind. Angst ist im Leben vorgesehen. Man kann sie aushalten und gestalten. Man kann ihr sogar mit Humor und Selbstironie begegnen – nicht immer, aber es kann helfen.

Dann können wir versuchen, mit der Angst umzugehen. Zu überlegen, was kann ich tun? Einen Krieg kann ich nicht beeinflussen, aber ich kann mich engagieren. Eine meiner Mitarbeiterinnen arbeitet z.B. mit beim Katastrophenschutz. Dadurch, dass sie für die Geflüchteten da ist, hilft sie in erster Linie anderen, aber es gibt ihr auch selbst ein besseres Gefühl, als nichts zu tun. Man kann Profilbilder ändern, Social Media Posts liken, nur 100 km/h auf der Autobahn fahren, die Heizung herunterdrehen.
Und daneben gibt es das Aushalten: Halt finden, Gemeinschaft suchen. Über Ängste sprechen ist essentiell. Spricht man nicht über seine Angst, dreht sie sich im Kreis. In dem Moment, wo ich Ängste gegenüber anderen ausspreche, erlebe ich Resonanz. Andere hören mir zu, sie geben mir Antwort, ich bin nicht allein. Biologisch gesehen sind wir Herdentiere; es ist wichtig für unser Wohlbefinden, Dinge mit anderen teilen zu können, Solidarität zu geben und zu erfahren.

Was steht im Fokus des Resilienzprojekts?

In unserem Projekt arbeiten Kolleg:innen aus den Geistes- und Lebenswissenschaften eng zusammen. Resilienz wird oft mit Unverwundbarkeit gleichgesetzt: eine Krise kommt, wird mit links bewältigt, und danach ist alles wie vorher. Das ist das Bild vom Gummiball, den ich gegen die Wand werfe, der sich beim Aufprallen verformt und nach dem Zurückspringen ist wie zuvor. Menschen sind aber nicht so. Es ist kein Manko, sich von einer Krise berühren zu lassen, darunter auch zu leiden und damit zu ringen. Vielleicht ist es sogar eine Voraussetzung, damit sich etwas verändern kann. Krisen sind Teil unseres Lebens, und auch Teil der Art, wie wir unser Leben erzählen, unseres Lebensnarrativs. Wir blicken beim Projekt auf den Prozess: Was stärkt Menschen in Krisen? Welche Ressourcen und Belastungen haben z.B. Menschen, die während Corona etwa im Gesundheitswesen arbeiten? Das haben wir auch in einer großen OnlineUmfrage untersucht. Welche auch kleinen Dinge helfen individuell? Und vor allem: Was gibt Menschen in einer Krise ein Erleben von Sinn?
Wir lernen heutzutage, sehr ergebnisorientiert zu arbeiten und denken, „Erst muss ich ein Ziel erreichen, dann wird es mir gut gehen“. Dabei vergessen wir oft den Wert des Alltags, in dem wir leben. Lebt man stärker am Prozess orientiert, dann hat man natürlich auch ein Ziel, schätzt aber auch Dinge und Gefühle auf dem Weg. Etwa Dankbarkeit, eine nette Begegnung. Man erreicht noch immer sein Ziel, vielleicht ein bisschen langsamer. Aber man hat unterwegs viel mehr Erlebnisse, die helfen können, das Angstsystem zu beruhigen. Das können Begegnungen, Gefühle, Wahrnehmungen sein. Dazu gehört auch, mal abwarten oder vertrauen zu dürfen. Das sind Elemente, die wir für Resilienz ganz wichtig finden.

Das klingt nach Achtsamkeit.

Ja. Aber Achtsamkeit nicht als Strategie, sondern als Haltung. Achtsamkeit kommt überwiegend aus dem Buddhistischen und dort ist ein Grundsatz: „Kein Leben ohne Leid“. Sie ist nicht dafür da, Angst wegzumachen. Sondern die Angst zu erfahren, wahrzunehmen und zu sagen: Ich habe einerseits Angst, darf mich aber zugleich beschenkt fühlen. Man muss nicht erst daran arbeiten, die Angst zu entfernen, bevor man etwas anderes tut. Sonst kann man sich total verrennen.
Wie nach 2015 kommen Menschen zu uns, die Krieg, Vertreibung, Hunger erlebt haben. Warum trifft uns die Ukraine mehr als Syrien?
In beiden Fällen kamen Menschen aus Kriegsgebieten zu uns. Es mag uns manchmal erschrecken, dass uns Syrien weniger berührt als die Ukraine, weil es räumlich weiter weg ist. Das ist aber gut erklärbar, denn biologisch springt Angst schneller an, wenn etwas näher ist. Trotzdem können wir natürlich mehr als unsere Biologie, das heißt wir können uns genauso für Syrien engagieren.

Wie verändern solche Erfahrungen das Leben?

Zwischen 20 und 40 Prozent der Menschen mit Kriegserfahrung entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie ist durch Hypervigilanz, Intrusionen und Vermeidung gekennzeichnet: Man ist schreckhaft und reizbar. Man erlebt sich plötzlich aufdrängende Erinnerungen. Das ist nicht: Beim Gedanken daran werde ich traurig. Sondern: Ich rieche Brandgeruch oder höre Lärm, und fühle mich ganz unvermittelt in die traumatische Situation zurückversetzt. Daraufhin versucht man, solche „Trigger“ zu vermeiden: Schreckliche Erlebnisse im Krankenhaus führen dann z.B. dazu, dass man nicht mehr ins Krankenhaus geht. Posttraumatische Belastungsstörungen können und müssen psychotherapeutisch behandelt werden.


Kann das wieder besser werden?

Wir sind alle durch unsere Lebenserfahrungen geprägt. Leichte Ängste kann unser Angstsystem wieder verlernen. Das haben wir in der ersten Corona-Welle erlebt, als wir erst stark verunsichert waren, was noch sicher ist und was nicht. Dann gab es eine neue Normalität, wir gewöhnten uns daran, trotz objektiv gleichbleibender Bedrohung, weil wir merkten: Im Alltag ist mir nichts passiert. Bei einer massiv erfahrenen Lebensbedrohung verankern sich Ängste ganz anders. Unser Angstsystem weiß: Diese Erfahrung darf man nicht mehr vergessen. Sollte sie wieder passieren, muss ich mich sofort retten. Die Angst bleibt. Die Grundsicherheit, dieses „mir (oder uns) wird schon nichts passieren“, verschwindet.
Um ein solches Grundvertrauen wiederzufinden, wieder eine innere Balance zu finden, ist es ein weiter Weg. Ich muss ja jetzt mit dem Wissen leben, dass das Leben beides sein kann: geborgen, aber auch völlig bodenlos, und beides ist wahr. Dafür brauche ich die Chance, das Erlebte einzuordnen, ihm irgendwie einen Sinn zu verleihen. Es kann durchaus sein, dass das Erlebte widersinnig bleibt, eine Widerfahrnis. Aber dass der Sinn darin liegt, wieder Kontakt mit Menschen zu haben und sich verbunden fühlen zu können mit einer Hoffnung, einem Glauben, einem Wertesystem oder auch der Natur.


Müssen wir dafür die Kapazitäten bei Behandlungen erhöhen?

Ja, das werden wir müssen. Es gibt hier in NRW und Rheinland-Pfalz ein relativ gutes Netzwerk, aufgebaut vor allem durch niedergelassene Kolleg:innen, für die Trauma-Behandlung von Flutopfern. Aber dieses Netzwerk wäre völlig überfordert mit den Ukraine-Geflüchteten. Nicht jeder, aber viele werden Hilfe brauchen. Wir benötigen deshalb mehr Kapazitäten für Psychotherapie.

Dr. Franziska Geiser
Dr. Franziska Geiser - Dr. Franziska Geiser ist ist Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn © Universitätsklinikum Bonn
Wird geladen