09. Mai 2022

Interkulturalität in der Lehrendenbildung Interkulturalität in der Lehrendenbildung

Studierende aus Deutschland, Österreich und Israel bearbeiten gemeinsam Fallgeschichten

Wie fördert man digitales Knowhow und die interkulturelle Kompetenz bei angehenden Lehrkräften? Damit beschäftigt sich das Bonner Projekt „Virtual Intercultural Skill Acquisition Via International Sessions“, kurz Vis-à-Vis, das 2020 mit dem delina-Award ausgezeichnet wurde. Eng und im direkten Austausch arbeiten Studierende aus drei Ländern kollaborativ zusammen, unterstützt durch Videokonferenz-Software und digitale Tools. Bereits zum fünften Mal organisierten die Bildungswissenschaften das Projekt. forsch begleitete drei Studierende dabei.

Vernetzt in Gruppen:
Vernetzt in Gruppen: - Prof. Dr. Jutta Standop und Christoph Dähling sowie die Studierenden Noumidia aus Bonn, Hannah aus Österreich und Muhammed aus Israel arbeiteten mit verschiedenen digitalen Tools zusammen. © V. Lannert (Montage, Portraits privat)
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Es ist Mittwochabend, 19 Uhr. Noumidia aus Bonn, Hannah aus Österreich und Muhammed aus Israel sind zum zweiten Mal zum Videotelefonat verabredet. Sie bilden eine Gruppe und tauschen Gedanken zu einem Fallbeispiel aus. Die Teilnehmenden werden nach etwas Smalltalk langsam warm miteinander, das Sprechen der englischen Sprache fällt ihnen zunehmend leichter.


Dies ist auch nötig, denn das Fallbeispiel, um das es geht, hat es in sich: Eine Grundschullehrerin wird im Unterricht von einer Schülerin gefragt, was das Wort „Holocaust“ und das HakenkreuzSymbol bedeute. Die Lehrerin steht nun vor der Frage, ob sie dieses Thema in der Klasse unterrichten soll und wenn ja, wie sie es unterrichten soll, damit die Wertebildung der Kinder gefördert wird.


In ihrem ersten Videotelefonat haben die drei Lehramtsstudierenden festgelegt, welche Aspekte sie in der Fachliteratur recherchieren müssen, um die Frage der Grundschullehrerin beantworten zu können. Nacheinander stellen sie sich nun ihre in Einzelarbeit erzielten Ergebnisse vor und diskutieren darüber.


Die drei Studierenden der Universität Bonn, der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz, Österreich, und des Oranim College of Education, Israel, sind Teil des Vis-à-visProjekts, welches von Prof. Dr. Jutta Standop, Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik, und ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Christoph Dähling 2017 ins Leben gerufen wurde. Seitdem ist das Projekt jährlich Teil eines BachelorSeminars in den Lehramtsstudiengängen der Universität Bonn. „Es war uns bereits vor fünf Jahren wichtig, dass die Studierenden mit digitalen Medien arbeiten und den gezielten Einsatz digitaler Tools kennenlernen. Schließlich setzen angehende Lehrkräfte diese nur dann im Unterricht ein, wenn sie selbst Erfahrung im Umgang damit gewonnen haben“, berichtet Standop.


Inzwischen sei man „dank“ der Pandemie technisch weiter. „Damals waren die Studierenden besorgt, ob die Videokonferenz-Software auf ihren Endgeräten funktioniere. Daher haben wir vor der ersten Plenumssitzung eine Test-Videokonferenz angeboten“, erinnert sich Dähling. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie sei dies nicht mehr notwendig. Videokonferenzen gehören mittlerweile zum Alltag aller Beteiligten.


Die Idee zum Projekt hatte Standop bereits vor Ihrem Ruf an die Universität Bonn im Jahr 2017. „Während meiner Professur an der Universität Trier war ich Repräsentantin beim Hochschulforum Digitalisierung. In dieser Zeit habe ich zahlreiche Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichsten Fächern an anderen Hochschulen national und international gewonnen und viele Anregungen erhalten. Hierdurch ist die Idee in mir entstanden, angehende Lehrkräfte aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen“, fasst Standop zusammen.


Einerseits sei durch die Zuwanderung zahlreicher junger Menschen mit Fluchterfahrung in den Jahren 2015 und 2016 deutlich geworden, dass vielen Lehrkräften grundlegende interkulturelle Kompetenzen fehlten. Andererseits mache die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft immer stärker deutlich, dass Schülerinnen und Schüler vermehrt durch die Schule auf den kompetenten Umgang mit digitalen Medien vorbereitet werden müssen. Studien zeigten aber, dass Lehrkräfte nicht ausreichend über die erforderlichen Kompetenzen verfügen, weshalb angehende Lehrkräfte bereits im Studium verstärkt mit digitalen Medien arbeiten sollten. „Das Vis-à-vis-Projekt vereint den Einsatz digitaler Medien, die Kollaboration mit Studierenden aus verschiedenen Kulturen und die Auseinandersetzung mit Theorien zur Interkulturalität und praxisrelevanten Problemfällen“, so Standop weiter.
Das Projekt läuft in mehreren Phasen ab. Vor Beginn setzen sich die Studierenden mit einem Grundlagentext über interkulturelle Kompetenzen auseinander.

Anschließend können sie zwischen drei Fallgeschichten auswählen, bei deren Bearbeitung sie jeweils Lösungen zu allgemeinen pädagogischen und didak tischen Fragestellungen mit interkulturellem Schwerpunkt diskutieren. Die Geschichten sind alle in einen schulischen Kontext eingebettet, etwa Unterrichtssituationen oder Gespräche zwischen Lehrkräften und Eltern.


Die Gruppenmitglieder lernen sich bei einer virtuellen Auftaktveranstaltung kennen. Nach einem einführenden Vortrag in die Begriffe Interkulturalität, digitale Medien und problembasiertes Lernen geht es in die dreiphasige Gruppenarbeit: „Zunächst analysieren die Studierenden gemeinsam das ursächliche Problem der Fallgeschichte, suchen Zusammenhänge und brainstormen zu ersten Lösungsideen. Sie sammeln außerdem Lernfragen, die sie anschließend in Einzelarbeit beantworten, um der Lösung des Problems näher zu kommen. Im dritten Schritt diskutieren sie ihre Ergebnisse und einigen sich auf eine Lösungsidee“, erklärt Dähling.


Noumidia, Hannah und Muhammed verständigen sich darauf, dass die Grundschullehrerin den Nationalsozialismus im Unterricht thematisieren sollte. Wenn sie dies nicht tue, könnten die Schülerinnen und Schüler Fehlinformationen aus dem Internet aufsitzen. Außerdem sei es wichtig, dass die Kinder in einem sicheren Rahmen wie der Schule mit dem Thema konfrontiert würden. Schließlich läge bei jungen Schülerinnen und Schülern oft unreflektiertes und lückenhaftes Wissen über den Nationalsozialismus vor. Eine Thematisierung in der weiterführenden Schule sei daher zu spät.


Über diesen Lösungsvorschlag möchten die drei Studierenden mit den anderen Teilnehmenden und Dozierenden bei der Abschlussveranstaltung sprechen. Dort kommen alle wieder im Plenum zusammen, präsentieren sowie diskutieren ihre Ergebnisse in Form eines Gruppenpuzzles. Dabei werden die Teilnehmenden so gemischt, dass in jeder Gruppe drei Personen jeweils unterschiedlicher Fallgeschichten sind. Gemeinsam erarbeiten sie, welche Fähigkeiten eine Lehrkraft im 21. Jahrhundert haben sollte und tragen diese mithilfe einer Web-Anwendung zusammen: Am häufigsten werden Flexibilität, technische Fähigkeiten und Geduld genannt.


„Mir gefiel das Projekt sehr gut. Ich glaube, das liegt vor allem an meiner Gruppe, da wir uns alle gut verstehen und wir in unseren Meetings immer Spaß hatten“, resümiert Noumidia. Während des Projekts habe sie festgestellt, wie schön Teamarbeit sein könne. „Seit ich an der Universität Bonn studiere, haben alle Veranstaltungen virtuell stattgefunden und demnach habe ich kaum mit anderen Studierenden zusammengearbeitet. Beim Vis-à-vis-Projekt nun endlich schon.“ Hannah war positiv überrascht, dass ihr das Projekt so viel Freude bereitet hat. „Ich merke selbst, wie viel offener ich jetzt in Bezug auf das Kennenlernen von neuen Menschen und Kulturen bin“, sagt sie am Ende. Muhammed hätte sich gewünscht, alle Studierenden persönlich in Israel zu treffen. Dennoch sei er erstaunt gewesen, wie gut die Zusammenarbeit über die große Distanz funktioniert habe.

Im Jahr 2021 machte das Vis-à-vis-Projekt auf sich aufmerksam, als es für den Innovationspreis für digitale Bildung delina in der Kategorie Hochschule nominiert wurde. Der delina Award wird jährlich auf der LEARNTEC, einer Fachmesse für digitale Bildung, verliehen. Ausgezeichnet werden Konzepte und Projekte, die innovative Zukunftstechnologien und Medien mit dem Lernalltag vereinen.

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