12. Mai 2021

Wie virtuelle Realität real wird Wie virtuelle Realität real wird

SLAMCast zeigt, wie der Transfer von Software-Forschung in die Wirtschaft gelingt.

Nicht erst seit Corona ist es von enormem Nutzen, sich virtuell in einem Raum zu bewegen und sich dort in Echtzeit mit Menschen zu treffen. Informatiker der Universität Bonn haben für genau diesen Zweck eine Software entwickelt, die ein erster Kunde nun in die Praxis überführt: Die Firma DoubleMe mit Sitz in Sunnyvale (Kalifornien), Seoul und London hat für die Nutzung der sogenannten SLAMCast Software die Lizenzrechte erworben.

SLAMCast Software für virtuelle Realität
SLAMCast Software für virtuelle Realität © Patrick Stotko, Stefan Krumpen, Matthias B. Hullin, Michael Weinmann, Reinhard Klein
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Die Arbeitsgruppe von Prof. Reinhard Klein arbeitet seit 2016 an der Kernfrage „Wie lässt sich eine reale Umgebung in Echtzeit virtuell zu einem anderen Nutzer übertragen?“. Mit der SLAMCast Software konnte diese Fragestellung für quasistatische Szenen nun gelöst und für ganz unterschiedliche Anwendungen sogenannter Telepräsenz nutzbar gemacht werden. Die prinzipielle Methodik der SLAMCast Software beschrieben Patrick Stotko, Stefan Krumpen, Matthias B. Hullin, Michael Weinmann und Reinhard Klein 2019 in einem Fachartikel der Zeitschrift IEEE Transactions on Visualization and Computer Graphics.

Einzige Voraussetzung zur Echtzeitübertragung mit SLAMCast ist die Aufnahme einer Szene mit einer RGBD-Kamera, wie sie bereits in einigen neuen Smartphones zu finden ist. Während der Bildsensor ein herkömmliches Farbbild erfasst, misst der Tiefensensor die Abstände der betrachteten Objekte zur Kamera. Auf diese Weise kann ein Raum dreidimensional erfasst werden. Das Besondere ist nun, einer anderen Person die aufgenommene Umgebung live virtuell zu präsentieren, z.B. einem Heizungsinstallateur den Keller. Damit das Ganze in Echtzeit möglich wird, ist eine schnelle Übertragung über das Internet nötig, um die großen Datenmengen zur Beschreibung der sich beim Betrachter virtuell aufbauenden Realität live zu ermöglichen und mit einer Virtual-Reality-Brille zu visualisieren.

Die SLAMCast Software löst diese Herausforderung durch die Kombination eines effizienten Echtzeit-3D-Scannings sowie eines kompakten, realistischen 3D-Szenenmodells. Dieses Modell zeigt die aufgenommenen Oberflächen möglichst genau aber auch kompakt, ohne dass wichtige Informationen über die Szene verloren gehen. „Mit einer Virtual-Reality-Brille bekommt der Nutzer dann ein richtiges live 3D-Feeling, weil er den Raum selber zu Fuß und vor allem unabhängig erkunden kann“, sagt Michael Weinmann, einer der Forscher vom Institut für Informatik. Das sei wichtig für die Anwendung in der Praxis, damit man der Person mit der Kamera nicht immer sagen muss, wohin sie gerade filmen soll. Ein weiterer Vorteil des kompakten Modells und der schlanken Datenübertragung mit Hilfe von SLAMCast ist, dass auch Gruppen von über 20 Nutzern gleichzeitig und unabhängig voneinander virtuell an einer Szene teilnehmen können.

Wie der Transfer in die Wirtschaft funktioniert

Der Vertrag und die Konditionen zwischen der Universität und DoubleMe wurden von der PROvendis GmbH als IP („Intellectual Property“) -Dienstleister der Universität Bonn erfolgreich verhandelt. „Beide Seiten sind mehr als zufrieden mit dem geschlossenen Lizenzvertrag“, sagt Salih Çakmak, Manager für Patente und Lizenzen bei PROvendis. Der Transfer von Software in die Wirtschaft birgt allerdings auch Schwierigkeiten. „Wir haben viele tolle Forschungsergebnisse in der Informatik, aber es ist nicht immer leicht, sie in die Praxis zu bringen“, sagt Rüdiger Wolf aus dem Transfer Center enaCom der Universität Bonn. Das bestätigt auch Salih Çakmak: „Es besteht vielfach die schwierige Ausgangssituation, dass für Software kein Patent angemeldet beziehungsweise ein Patentschutz für die Software nicht gewährt wurde, welcher für die grundlegende Technik zusätzlichen Schutz bietet. Es greift aber immer das Urheberrecht. Häufig arbeitet zudem ein Team von Entwicklern an dem Quellcode, sodass die Rechte bei verschiedenen Personen verteilt liegen.“ So war es auch bei dem Team hinter SLAMCast.

Ein weiterer Fallstrick können laut Salih Çakmak Haftungsfragen sein: Was passiert zum Beispiel, wenn die Software nicht richtig genutzt werden kann, weil technische Voraussetzungen fehlen, die aber nie kommuniziert wurden? Leisten die Entwickler einen dauerhaften technischen Support bei Problemen? Diese Punkte müssen in jeden Fall individuell von den Parteien ausgehandelt werden – wie bei der Universität Bonn und DoubleMe.

Und doch suchen sich die zahlreichen Entwicklungen in der Software-Forschung mehr und mehr ihren Weg in die Praxis. „Software boomt an den NRW-Hochschulen: Wir bekommen bei PROvendis zahlreiche Anfragen zum Schutz von Software und dem geistigen Eigentum an solchen computerimplementierten Erfindungen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, auch diese Forschungsergebnisse systematisch zu verwerten“, sagt Salih Çakmak. Mittlerweile fokussiert sich ein ganzes Team aus verschiedenen Fachrichtungen bei dem IP-Dienstleister auf die Bearbeitung von Softwarefällen. Im Rahmen des Verbundprojektes NRW Hochschul-IP, dem ehemaligen NRW-Patentverbund, werden Hochschulwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zudem gezielt zum Verwertungspotenzial der sogenannten „sonstigen Schutzrechte“ geschult. Hierzu zählt auch die Software als Schnittstelle zwischen Erfindung und Urheberrecht.

PROvendis übernimmt im Rahmen des Verbundprojektes die Verwertung der Technologien,  Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können aber mit ihrer Aktivität selbst Interessenten akquirieren und den Transfererfolg beschleunigen: So haben Michael Weinmann und seine Kollegen die SLAMCast Software auf diversen Plattformen gestreut und Vorträge gehalten – mit Videos, die zeigen, dass die Software auch in der Praxis funktioniert. Dabei wurden auch unterschiedliche Fach-Communities und große Konferenzen mit Industrie-Beteiligung bedacht. „Diese Akquise ist schon sehr viel Arbeit“, sagt Michael Weinmann. Aber für die Bonner hat es sich gelohnt: Ein Gründer von DoubleMe war über eine der Plattformen auf sie aufmerksam geworden und kontaktierte sie.

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