Gleich zu Beginn zeigte sich Lammert von der großen Resonanz beeindruckt – zumal die Formel „Demokratie braucht Demokraten“ zunächst banal klinge. Dass sie es nicht ist, belegte er mit einem Blick auf die politische Beteiligung in Deutschland: Im Durchschnitt nähmen nur etwa zwei Drittel der Wahlberechtigten an Wahlen teil, ein Drittel mache von diesem „Königsrecht der Demokratie“ keinen Gebrauch. Alle Parteien zusammen zählten nur etwas mehr als eine Million Mitglieder; damit entschieden weniger als drei Prozent der Wahlberechtigten darüber, wer für politische Ämter kandidiert und welche Programme überhaupt zur Auswahl stehen.
Ausgehend von „35 Jahre Deutsche Einheit“ und „75 Jahre Grundgesetz“ erinnerte Lammert an die Aufbruchstimmung nach dem Mauerfall 1989. Viele hätten damals geglaubt, die Systemfrage sei zugunsten der Demokratie entschieden, Debatten über das „Ende der Geschichte“ machten die Runde. Heute sei die Bilanz ernüchternd: Die Zahl voll funktionsfähiger Demokratien sei seit Mitte der 1990er Jahre deutlich gesunken, weltweit lebten weniger als zehn Prozent der Menschen in Staaten, die einem anspruchsvollen Demokratieverständnis standhielten. Eine Demokratie verdiene diesen Namen nach Prof. Lammerts Definition nur, wenn es regelmäßige freie Wahlen, echte personelle und programmatische Alternativen, fairen Wettbewerb, eine wirksame Gewaltenteilung mit begrenzten und befristeten Zuständigkeiten, eine unabhängige Justiz sowie einklagbare Grundrechte wie Meinungs-, Presse-, Religions-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit gebe.
Woran Demokratien wirklich scheitern
Im Rückblick auf die Weimarer Republik machte Lammert deutlich, dass Demokratien selten an ihren Verfassungstexten scheitern. Weimar sei weniger an juristischen Konstruktionsfehlern als an schweren Krisen, an der Schwäche der demokratischen Kräfte und am mangelnden Zusammenhalt der Demokraten zerbrochen; manche Historiker*innen sprächen von einer „Demokratie ohne Demokraten“. Auch heute gingen demokratische Systeme meist nicht durch Militärputsche oder Bürgerkriege zugrunde, sondern durch Wahlergebnisse, nach denen nicht-demokratische Akteure Schritt für Schritt die Unabhängigkeit der Gerichte, die Freiheit der Medien oder der Wissenschaft einschränkten – oft ohne die Verfassung sichtbar zu verändern.
Zum Schluss spannte Lammert den Bogen zur Gegenwart. Er zitierte den Historiker Timothy Snyder, der Deutschland als derzeit wichtigste funktionierende Demokratie bezeichnet hat, und erinnerte an Barack Obamas Satz, Demokratie sei besonders gefährdet, wenn Menschen sie für selbstverständlich hielten. Deutschland gehöre historisch zu den „Lucky Few“, die in einem rechtsstaatlichen demokratischen System leben – doch das bleibe nur so, wenn genügend Bürgerinnen und Bürger Verantwortung übernehmen, wählen gehen, sich in Parteien, Verbänden und Initiativen engagieren und demokratische Werte im Alltag verteidigen. Genau dazu will die Reihe „Demokratie lebt vom Mitmachen!“ anregen, die unterschiedliche Facetten von Demokratie aufgreift und zum aktiven Mitgestalten ermuntert.
Nach dem Vortrag hatten die Besuchenden in der Aula Gelegenheit, moderiert von der Vorstandsvorsitzenden des Vereins, Prof. Dorothee Dzwonnek, Fragen an Prof. Lammert zu richten. Es entspann sich ein lebhafter Dialog mit dem Publikum.
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