Warum Homi Bhabhas Theorien aktueller sind denn je
Zum 30. Jubiläum seines Buchs „The Location of Culture" diskutierte der Harvard-Professor mit Studierenden, Mitarbeitenden und Forschenden über Postkolonialismus.
Das von Harvard-Professor Homi K. Bhabha im Jahr 1994 veröffentlichte Buch „The Location of Culture" gehört zu den Werken, die einen Paradigmenwechsel innerhalb der Geisteswissenschaften bewirkt haben. Die afroamerikanische Schriftstellerin und Trägerin des Literaturnobelpreises von 1993, Toni Morrison, hatte zurecht betont, dass eine ernstzunehmende Beschäftigung mit Postkolonialismus ohne dieses Werk schlicht unmöglich wäre. Bis heute hat das Buch nichts von seiner Aktualität eingebüßt, etwa bezüglich der Unterscheidung zwischen kultureller Diversität und kultureller Differenz: Hier argumentiert Bhabha, dass kulturelle Diversität oft eine oberflächliche Anerkennung von Unterschieden bleibt, die bestehende Machtverhältnisse nicht hinterfragt, während kulturelle Differenz davon ausgeht, dass Kultur sich immer in einem Raum der Begegnung, der Überschneidung und des Widerstands entwickelt – dem, was Bhabha als „Dritten Raum“ (Third Space) bezeichnet. Gleichzeitig beinhaltet „The Location of Culture" als Sammlung von elf zentralen Aufsätzen aber auch Verschiebungen und Differenzen zur aktuellen kulturellen und politischen Debatte, wenn beispielsweise an den zentralen Begriff der „Hybridität“ gedacht wird. Neue geopolitische Konstellationen und das generelle Besiegeln der Globalität im 21. Jahrhundert stellen das Buch in ein neues Licht. Ideen, die Bhabha ankündigte, wie die der kulturellen Hybridität, sind in unserer global vernetzten Welt heute alltäglich zu beobachten.
Bei den International Days 2024 hatten sich mehr als 800 Personen zu Homi Bhabhas Keynote Lecture angemeldet. Über 100 Studierende, Forschende und Mitarbeitende der Universität Bonn hatten im Anschluss Gelegenheit, mit ihm persönlich ins Gespräch zu kommen. Denn im Fokus des interdisziplinären Workshops „Third Space Turns 30: Revisit. Reflect. React?“ stand die Frage nach der Aktualität von Bhabhas Theorien für Fächer wie Geografie, Geschichte, Jura, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften oder die Theologien. Die Chairs an den fünf Diskussionstischen kamen unter anderem aus dem Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS), dem Zentrum für Versöhnungsforschung, dem Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie (IAAK), dem Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF), der Émile Durkheim-Forschungsstelle und der Abteilung für Interkulturelle Theologie. An den unterschiedlichen Tischen diskutierte Bhabha – einem Großschachmeister gleich, der mehrere Partien gleichzeitig bestreitet – jeweils einzeln sowie im Anschluss im Plenum eingehend seine Theorien aus unterschiedlichen Fächerperspektiven.
Hybridität bei Homi Bhabha
Homi Bhabhas Konzept der Hybridität meint, dass Kulturen nicht statisch nebeneinander existieren, sondern sich fortlaufend gegenseitig beeinflussen. So argumentiert er, dass sich kulturelle Identitäten in einem „Dritten Raum“ (Third Space) formen – einem Raum des Aushandelns und der Überschneidung von Kulturen.
In diesem hybriden Raum entstehen laut Bhabha auch neue Bedeutungen, Denkweisen und Ausdrucksformen jenseits der Ursprungskulturen. Sein Konzept der Hybridität hinterfragt damit die Vorstellung von festen, homogenen kulturellen Identitäten und zeigt, wie Machtverhältnisse, Kolonialismus und Globalisierung kulturelle Formationen beeinflussen, und dies durchaus auch reziprok.
Mithilfe von Homi Bhabhas Theorien und anhand seiner Studien über postkoloniale Gesellschaften lässt sich aufzeigen und verstehen, wie ehemals kolonialisierte Menschen Elemente des Kolonialismus aufnehmen, transformieren und neu deuten.
Das sagen die Expert*innen
Im Nachgang an den Workshop und mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der internationalen Wissenschaftslandschaft, auch und gerade, was die Themen Postkolonialismus und Minorities betrifft, haben wir sechs teilnehmenden Forschenden, primär aus dem Bonn Center for Dependency and Slavery Studies, die folgenden beiden Fragen gestellt und um ein kurzes Statement gebeten:
- Warum ist Homi Bhabas Ansatz wichtig für Ihre eigene Forschung?
- Warum ist The Location of Culture noch relevant, gerade heute?
Prof. Dr. Pia Wiegmink
(Professorin für Sklaverei- und Abhängigkeitsforschung / BCDSS)
Homi Bhabhas "The Location of Culture" hat mich in allen Phasen meines akademischen Lebens begleitet. Als Studentin der Theaterwissenschaft war sein Begriff der Mimikry entscheidend für mein Verständnis von Repräsentation, kultureller Performance und kolonialer Begegnungen. Später hatten seine Gedanken zum komplexen Zusammenspiel von Nation und Erzählung einen tiefgreifenden Einfluss auf mein Denken über literarische Texte und nationale Selbstgestaltung. Für meine Arbeit am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies sind Bhabhas Lektüre von Fanon, seine Überlegungen zu Konstruktionen von „Blackness“ und seine Schriften zu Schlüsselbegriffen wie Differenz, Ambivalenz und Hybridität von großer Bedeutung für die Entflechtung der konzeptionellen Binarität von Sklaverei/Freiheit und Berücksichtigung von Menschen-rechtsbelangen.
Prof. Dr. Marion Gymnich
(Professorin für Englische Literatur und Kultur / BCDSS)
Homi Bhabhas The Location of Culture ist nicht nur bis heute ein Schlüsseltext der Postcolonial Studies, sondern bietet auch inspirierende Erkenntnisse für das neu aufkommende Feld der Abhängig-keitsforschung. Es ist die Art von Text, die uns dazu ermutigt, uns mit Komplexitäten auseinanderzusetzen, wie etwa mit der Komplexität der psychologischen Prozesse, die das koloniale Denken prägen – ein Ansatz, der sich für eine Analyse der Art und Weise, wie mit dem Erbe und den Darstellungen des Kolonialismus im einundzwanzigsten Jahrhundert weiterhin umgegangen wird, als augenöffnend und manchmal vielleicht auch als unbequem erweist. The Location of Culture ist also alles andere als überholt und kann uns dabei helfen, die neokolonialen Strukturen und Denkweisen unserer Zeit kritisch zu betrachten.
Prof. Dr. Chioma Daisy Onyige (Professorin für Soziologie
(Kriminologie) / BCDSS)
Homi Bhabhas Ansatz ist für meine Forschung von entscheidender Bedeutung, weil er einen Rahmen für das Verständnis der Hybridität von Recht und Kultur in meinem Herkunftsland Nigeria bietet. Sein Konzept des „Third Space“ erklärt, wie die Normativität des Rechts jenseits staatlicher Institutionen unter Anwendung von Gewohnheitsrecht, in religiösen Räten und innerhalb lokaler Gemeinschaften verhandelt wird. Indem er das Recht aus einem rein westlichen Modell herauslöst, hilft Bhabhas Theorie zu erklären, wie der Rechtspluralismus in Nigeria funktioniert, wo Gesetzesrecht, Gewohnheitsrecht und religiöses Recht parallel existieren. Diese Perspektive ermöglicht eine nuancierte Herangehensweise an die Rechtsreform unter Anerkennung kultureller Realitäten und Berücksichtigung von Menschenrechtsbelangen.
Prof. Dr. Claudia Jarzebowski
(Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit und Abhängigkeitsforschung / BCDSS)
Mit Homi Bhaba zu denken bedeutet, die eigenen Positionen zu hinterfragen. Das kann in den Geisteswissenschaten nicht hoch genug geschätzt werden. Bhabha denkt gegen den Strich und niemals eindimensional. Diese Aufforderung, das Andere, das Unerwartete, gegebenenfalls auch Ungewollte mitzudenken, das ist es, was ich in meiner Forschung versuche umzusetzen. Im Ergebnis, und dafür bin ich Theoretiker*innen wie Bhabha außerordentlich dankbar, entstehen so Forschungsbausteine, die in den Geschichts- und Kulturwissenschaften die Grundlage und der Motor emanzipatorischer Gesellschaftsprogramme sein können, auch und gerade für künftige Forscher*innen!
Prof. Dr. Birgit Ulrike Münch
(Professorin für Kunstgeschichte / Prorektorin für Internationales / BCDSS)
Unbedingt wollten wir Homi Bhabha für unsere International Days 2024 gewinnen – gerade jetzt! Als Kunsthistorikerin und Historikerin faszinierte mich schon zu Beginn meines Studiums das große Potenzial der Veranschaulichung und Bildlichkeit seiner Theorien, etwa des „Third Space“, oder der Denkfigur der Mimikry, die sich sowohl vom biologischen Begriff, aber auch von Lacan oder Naipauls „mimic man“ abgrenzt. Bhabhas Mimikry als Form der Tarnung zeigt eben doch Unterschiede und Differenzen auf, sieht immer das Prozesshafte und die Transformation, das „fast, aber nicht total“. Etwa im Rahmen von Minoritätsdiskursen und des unartikulierten Widerstands sind seine Ansätze von erheblicher Relevanz für meine bild- und kulturwissenschaftlichen Forschungen.
Prof. Dr. Markus Gabriel
(Professor für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart)
Homi Bhabha hat mit The Location of Culture einen neuartigen begrifflichen Rahmen entwickelt, der es erlaubt, kulturelle Phänomene als hybride, unklare, dynamische und ambivalente Produkte zu fassen, die in Grauzonen ideologisch fokussierter Aufmerksamkeit existieren und daher Motoren sozialen und politischen Wandels sind. Damit ist er weiterhin einer der führenden Denker postkolonialer Theorie, die Kulturen nicht als abgeschlossene und damit zu dominierende Räume denkt.