Ihr Start in den Tag: War er perfekt?
Ein bisschen habe ich zur Vorbereitung der Lehre gelesen - und genau zwei Tassen Kaffee getrunken, nicht zu stark und nicht zu schwach. Das ist schon ziemlich gut, aber für einen perfekten Start fehlte noch etwas: ein Stündchen zu schreiben. Dafür reichte die Zeit nicht.
Was ist für Sie Perfektion?
Eine gute Frage – zumal es mir dieses Thema schon lang angetan hat. Früher habe ich Perfektion als Makellosigkeit verstanden – ohne Fehler, ohne Umwege und ohne Stolpern. Diese Definition lässt sich tatsächlich auch überall im Mittelalter finden. Aber dann bin ich auf Aristoteles gestoßen, dessen Ideen im Mittelalter verbreitet waren. Demnach ist Perfektion die Vollkommenheit eines Wesens, wenn es schafft, das zu sein, was es ist.
Was bedeutet das?
Ein Maler muss nicht auch noch ein Super-Koch sein. Man braucht nicht in allen Aspekten des Lebens makellos sein.
Ist Makellosigkeit überhaupt erreichbar?
Wer sie anstrebt, kann nur verlieren. Ein Fehler reicht: Dann ist es mit der Makellosigkeit vorbei.
Und das Streben nach Vollkommenheit?
Selbstverwirklichung als Perfektion ist ein Prozess. Auch hier wird das Ziel nie erreicht, aber es geht um die Verbesserung.
Warum ist uns Perfektion so wichtig? Ohne dieses Streben lebt es sich doch viel angenehmer.
Perfektionismus hat mit Kontrolle zu tun. Und der Wunsch nach Kontrolle hängt mit Angst zusammen. Perfektionismus ist ein Weg, mit den Ängsten des Lebens umzugehen: Je stärker ich kontrolliere, umso eher wird alles gut sein.
Nährt dieses Vorgehen die Hoffnung?
Aus der Psychologie ist bekannt, dass Menschen nach traumatischer Erfahrung zur Perfektheit neigen. Die Menschen im Mittelalter hatten viele Ängste – zurecht. Es gab Kriege, Hunger und die Pest. Perfektion bot Halt, um mit dem Chaos des Lebens umzugehen: Sei es durch asketische Lebensweise, ritterliche Taten oder höfische Manieren.
Ist der Mensch zum Perfektionismus verdammt?
In gewissem Sinne ja! Der Mensch lebt immer mit Ängsten und Traumata. Perfektionismus erscheint manchmal als ein sehr praktischer Weg, weil dies von der Gesellschaft sehr wohlwollend gesehen wird – etwa wenn wir „perfekte“ Mütter sind oder alles für die Arbeit tun. Aber irgendwann kommt man an seine Grenzen. Deshalb ist es keine gute Strategie.
Wie verbreitet war im Mittelalter das Streben nach Perfektion?
Nicht viele Menschen verfolgten dieses Ziel. Mir geht es um radikale Perfektionisten: Asketen und Ritter, die sehr charismatisch erschienen. Andere Menschen wollten sie nachahmen. Im Spätmittelalter gab es auch Frauen, die extrem asketisch lebten. Durch ihre Visionen gewannen sie Autorität, die sonst nur Männer hatten. Das grenzte ans Revolutionäre!
Wer war eine solche Revolutionärin?
Meine Lieblingsfigur ist Margery Kempe, die im 14. und 15. Jahrhundert gelebt hat. Sie war aus guter Familie. Nach einer schweren Geburt fing sie an, Gespräche mit Gott zu führen. Sie schwor dem Sexualleben mit ihrem Mann ab - vielleicht auch, weil sie bereits 14 Kinder hatte.
Was war das Außergewöhnliche an Margery Kempe?
Ihre Visionen von göttlichen Erscheinungen ermöglichten ihr einen intensiven Austausch mit Kirchenmännern. Es ist nicht klar, ob Margery Kempe lesen konnte. Sie lernte jedenfalls so viel, dass sie ein großes Wissen hatte und dies auch teilte.
War sie mit den Kirchenmännern auf Augenhöhe?
Sie bestritt zu predigen und zu lehren. Das musste sie, weil Frauen das nicht durften. Sie war aber auch umstritten. Ein paar Mal wäre sie um ein Haar als Ketzerin verbrannt worden. Sie lag im Streit mit Bischöfen und Priestern. Sie war auch keine Jungfrau mehr. Das hat sie sehr beschäftigt. Aber ihre Gespräche mit Gott fanden Bewunderung und haben sie sogar zu einer Seelsorgerin gemacht.
Gibt es diese radikale Perfektheit auch noch heute?
Wie im Mittelalter ist das auch heute sehr verschieden. Es gibt Menschen, die bei Instagram schöne Körper sehen und trotzdem ein Stück Kuchen essen. Andere tun alles, um ebenso attraktiv, muskulös und schlank zu werden. Im Mittelalter waren es nur wenige, die das Gefühl hatten, perfekt sein zu müssen: Nicht jeder konnte heilig oder Asket werden. Seit der frühen Neuzeit verbreiteten sich perfektionistische Ideale immer mehr. Heute glauben viele, bestimmte Ideale verkörpern zu müssen, weil sie sich sonst wertlos fühlen.
Wie kamen Sie zum Thema?
Seit langem befasse ich mich mit dem Mittelalter und auch mit Perfektionismus, aber sie waren lange separate Forschungsinteressen. Dann hat mich meine damalige Verlagsagentin in New York gefragt, was die Menschen im Mittelalter dazu sagen würden. Ich hatte noch überhaupt nicht darüber nachgedacht. Später merkte ich umso deutlicher, dass meine Forschung sich auch immer mit den Themen Perfektion und Unvollkommenheit befasste – bislang unter der Oberfläche.
Trying to be Perfect - in the Middle Ages | Uni Bonn
Bild © Universität Bonn / YouTube
Wie ging es weiter?
Dann habe ich angefangen, nach den Begriffen „Perfektion“ und „Unvollkommenheit“ im Mittelalter zu suchen. Beide Wörter haben auch im Christentum eine große Bedeutung: Das zeigt die Idee von der Ursünde bei Adam und Eva. Perfektion ist unmöglich!
Was berührt Sie dabei?
Die interessante Spannung, in der die Menschen sich befinden: Ab dem dritten und vierten Jahrhundert gehen sie in die Wüste, um radikale Asketen zu werden, die Verlockungen hinter sich zu lassen und sich zu perfektionieren: Sie hungern, arbeiten, beten ständig. Aber in den Berichten zeigt sich, dass sie oft daran scheitern. Bereits im Begehren nach Perfektion versündigen sie sich. Eigentlich wissen sie, dass sie ihr Ziel nicht erreichen können – und trotzdem versuchen sie es.
Das klingt nach einem Paradox.
Ja. Wenn diese radikalen Asketen auf den Gedanken kommen, dass sie perfekt sind - gerade dann ist alles vorbei: Sie sind stolz! Und deshalb nicht perfekt! Von Anfang an sitzen sie in der Falle. Ihren eigenen Gedanken und Dämonen ausgeliefert – ohne Ablenkungen.
Also besser nicht perfekt. Braucht denn die Wissenschaft Perfektion?
Nein, überhaupt nicht! Perfektionismus ist extrem kontraproduktiv, gerade beim Schreiben. Der Grund ist, dass in der Wissenschaft häufig die Fähigkeit zur Kritik über-trainiert wird. Im Fokus stehen vor allem Fehler und nicht das Potenzial – sei es bei Hausarbeiten von Studierenden oder den eigenen Werken. Die produktivsten Forschenden sind keine Perfektionisten. Sie kommen sehr schnell zu ersten Entwürfen. Die sind recht hölzern. Aber dann wird geschliffen, bis die Veröffentlichungen gut sind.
Plädieren Sie für Unvollkommenheit in der Wissenschaft?
Ja. Unbedingt! Perfektionismus ist unsere Pest. Wenn ich die Geisteswissenschaft revolutionieren könnte, dann würde ich möglichst viel Kreativität zulassen und die schöpferischen Fähigkeiten trainieren. Denkt, spielt und experimentiert – als Gegengewicht! Kritik muss sein, aber nicht immer von Anfang an. Perfektion ist erst beim Polieren gefragt.