Inwieweit müssen wir uns wegen des Klimawandels einschränken, damit es auch künftigen Generationen gut geht?
Bei der Diskussion ist fraglich, ob es sich bei allen notwendigen Maßnahmen und Umstellungen tatsächlich um Einschränkungen handelt. Zum Beispiel führt der reduzierte Fleischkonsum nicht nur zu positiven Umwelteffekten, sondern auch zu erheblichen Vorteilen für die Gesundheit. Es gilt vielmehr, das Konzept von Lebensqualität neu zu definieren. Denn alle sind sich einig, dass diese durch Klimawandel und Biodiversitätsverlust nicht besser wird. Zudem sollten wir den Begriff „zukünftige Generationen“ hinterfragen, da unsere Entscheidungen bereits unsere heute lebenden Kinder und Enkelkinder betreffen. Der Begriff der Nachhaltigkeit ist aus diesem Geist der intergenerationellen Verantwortung in der Forstwirtschaft entstanden. Er beschreibt, wie heutige Entscheidungen auch den jüngeren und zukünftigen Generationen zugutekommen sollten.
Die Debatte im Jubiläumsjahr des DRZE dreht sich um die „Wiederentdeckung der Bioethik“. Wie hat sich diese Disziplin weiterentwickelt?
In der Bioethik, aber auch in anderen Bereichen der angewandten Ethik, gab es eine Phase, in der man die individuelle Autonomie in den Vordergrund stellte, um sich vom Paternalismus zu emanzipieren. Das führte teils zu Formen der Individualisierung, die in Egoismen abdrifteten. Heute rücken Zugehörigkeit und Kollektiv stärker in den Fokus, etwa in der Medizin, wo Solidarität beim Thema Organspende oder Teilen von Gesundheitsdaten für die Forschung wichtig ist. Ethik bedeutet, individuelle Entscheidungen in den Kontext des Kollektivs zu stellen. Es geht nicht nur um persönliche Entscheidungen, sondern um Verantwortung in einer Gemeinschaft. Beim Klimaschutz müssen wir global denken. Es reicht nicht, was wir in Deutschland oder Bonn tun.
Welche ethischen Knackpunkte sehen Sie in globalen Fragen?
Wenn wir moralisch in der Welt navigieren, haben wir bestimmte Intuitionen von Gerechtigkeit, Solidarität und einem menschenwürdigen Leben. Auf globaler Ebene gibt es Prinzipien, die universalisierbar sind, aber auch kulturelle und religiöse Unterschiede spielen eine Rolle. Klimaschutz kann nur in internationaler Zusammenarbeit gelingen. Daher müssen wir Prinzipien finden, die interkulturell kommunizierbar sind. Unser Ziel ist es, gemeinsame Strategien zu entwickeln, die sowohl das Lokale als auch das Globale ernst nehmen. Leider stehen zurzeit eher nationale Egoismen in der Politik im Vordergrund.
Wissenschaft ist nicht neutral, sie ist eine soziale Praxis in einem sozialen Kontext.
Sind wir von der Natur abhängiger als gedacht?
Seit einigen Jahren richtet sich der Blick zunehmend auf planetare Gesundheit. Das Konzept von „Global Health“ bezieht auch den Planeten und die Umwelt mit ein. Wir müssen erkennen, dass wir Naturwesen sind, die auf eine intakte Natur angewiesen sind. Die Biodiversitätsforschung untersucht etwa, wie Organismen miteinander interagieren und welche noch unbekannten Inhaltsstoffe uns möglicherweise helfen, moderne Probleme zu bewältigen, insbesondere in der Medikamentenforschung. Zudem hat die biologische Vielfalt einen positiven Einfluss auf unsere mentale Gesundheit. Global Health betrifft alle, wobei die Menschen im globalen Süden durch den Klimawandel stärker betroffen sind. Wenn aber etwa die Wüstenbildung in afrikanischen Ländern voranschreitet, hat das auch Konsequenzen für die Migration in die Gesundheitssysteme des globalen Nordens.
Auf welche Weise gehen Philosophie und Ethik mit diesen Herausforderungen um?
Die Entwicklung geht dahin, dass in vielen Disziplinen nicht mehr nur in den gewohnten thematischen und methodischen Korridoren gedacht wird, wie etwa rein medizinisch, biologisch oder agrarwissenschaftlich. Stattdessen rückt die gesellschaftliche Verantwortung der Forschung stärker ins Bewusstsein. Die sich von der Genetik über Stammzellen bis hin zur Künstlichen Intelligenz stellenden ethischen Fragen befassen sich insbesondere mit der Rechtfertigung von Handlungszielen und der Verständigung über die hierfür angemessenen Mittel. Antworten können nur gelingen im Austausch zwischen den Disziplinen und mit der Gesellschaft.
Welchen Stellenwert hat Ethik in der Wissenschaft?
Einen sehr hohen. Wir müssen schon im Forschungsprozess ethische Fragen einbeziehen und diese Reflexion nicht erst der gesellschaftlichen Anwendung überlassen. Wissenschaft ist nicht neutral, sie ist eine soziale Praxis in einem sozialen Kontext. Unsere Doktoranden müssen lernen, über ihre Forschung hinaus gesellschaftliche Verantwortung mitzudenken. So gibt es an der Universität Bonn seit Kurzem ein zentrales Curriculum für Forschungsethik, das wir am DRZE entwickelt haben und das allen Fakultäten offensteht.
Wie hängen Künstliche Intelligenz und Verantwortung zusammen?
KI kann uns unterstützen, aber die Verantwortung muss beim Menschen bleiben. Es darf kein Vertrauensbruch entstehen, indem man sagt: „Die KI hat entschieden.“ Entscheidungen müssen nachvollziehbar sein.
Lässt sich Ethik angesichts der weltweiten Krisen in einem globalen Kontext durchsetzen?
Ethik hat keine Sanktionsmechanismen. Diese Aufgabe übernimmt das Recht. Ethik und Recht müssen zusammenarbeiten, um Normen umzusetzen. Das beste Gesetz nützt aber nichts, wenn es von der Gesellschaft nicht als gerecht empfunden oder sinnvoll anerkannt wird. Insofern braucht es immer das Zusammenspiel von Ethik und Recht. Die Überzeugungskraft ist die schärfste Waffe der Ethik. Es geht um die Fähigkeit, Diskurse zu führen, Argumente zu analysieren und tragfähige ethische Entscheidungen zu treffen. Ethik ist eine praktische Wissenschaft, die untersucht, welche Argumente wirklich gerechtfertigt sind und welche nicht. Und genau das müssen wir in der heutigen, komplexen Welt stärker fördern – erst recht angesichts der verkürzten Kommunikation über die sozialen Medien.