02. April 2024

Wo Kanaanäer die Altägypter „coverten“ Wo Kanaanäer die Altägypter „coverten“

Prof. Ludwig Morenz unternahm eine Expedition zum Ursprung der Alphabetschrift

Die Piste schlängelt sich durch Sand und Steine, der Internet-Empfang ist schlecht und der Sternenhimmel grandios: Nach vielen Jahren hat der Ägyptologe Ludwig Morenz mit seinem Team wieder ein entlegenes Camp in der Nähe von Serabit el Chadim bezogen. Die Forschenden digitalisieren Jahrtausende alte Inschriften. Hier hat die Alphabetschrift ihren Ausgang genommen, indem die Kanaanäer die komplizierten ägyptischen Hieroglyphen in einzelne Buchstaben verwandelten.

Das Forscher-Team bei an den Stelen
Das Forscher-Team bei an den Stelen © Morenz
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Die Morgensonne steht am Horizont, als Prof. Ludwig Morenz den Rucksack schultert. Zusammen mit seinem Assistenten David Sabel und dem jungen Beduinen Barakat, dem Sohn von unserem Gastgeber Scheich Rabia Barakat, sowie der ägyptischen Promovendin Sherouk Shehada und dem Inspektor der ägyptischen Altertümerverwaltung Mohammed Nur ed Din verlässt er das Lagerfeuer am Camp und bricht zu dem steilen Pfad auf, der durch das Sinaigebirge zu den Stollen von Serabit el Chadim führt. Im Sommer ist es dort unerträglich heiß, deshalb bevorzugt der erfahrene Ägyptologe den November für seine mehrwöchige Ausgrabung. „Trotzdem ist es auch im Winter ratsam, früh aufzubrechen“, sagt er. „Der Aufstieg im Schatten ist angenehmer, und wir möchten den Tag nutzen.“

 Für Morenz ist es eine Rückkehr nach längerer Zeit. Erstmals seit 2014 ist er selbst wieder vor Ort, um den dortigen Tempel dreidimensional zu digitalisieren und in den verlassenen Stollen der Kanaanäer nach Inschriften zu suchen, um seine Forschung zur Entstehung der Alphabetschrift zu vervollständigen. Auch damals nutzten er und sein Team das Camp in der geschützten Senke mitten im Gebirge. Stundenlang geht es von der Hauptstadt Kairo mit dem Geländewagen zunächst noch über breite Teerstraßen, die immer schmaler werden. Dann schlängelt sich die Piste schließlich durch Sand und Steine hierher.

Unglaublich viele Sterne

Beim Aufstieg ein Blick zurück auf das Camp: Auf der einen Seite das Steingebäude, das von einer ägyptischen Expedition genutzt wird, auf der anderen mehrere weiße Zelte. Morenz hat sich entschlossen, die Nächte unter der Stoffbahn auf einer Matratze zu verbringen: „Hier gibt es so gut wie kein Licht. Wenn man aus dem Zelt tritt, sieht man unglaublich viele Sterne.“ Nur ab und zu schauen Touristen vorbei, die nach den Überbleibseln der ägyptisch-kanaanäischen Kultur suchen – aber das ist die Ausnahme. Ansonsten kann sich der Ägyptologe ungestört der Wissenschaft widmen.

Viel verändert hat sich in all den Jahren nicht im Camp: Gegessen wird am Feuer, wo die Beduinen meist auch frisches Brot für die Wissenschaftler backen. Abends gibt es auch üppigere Gerichte, wie Eintopf mit Fleischeinlage. „Die Küche ist gesund und sehr abwechslungsreich“, meint Morenz. Vor rund zehn Jahren stand hier noch ein eigenes Zelt mit einer Waschschüssel für die notwendige Körperhygiene. Nun gibt es einen komfortableren Duschraum. Wo in der Wüste dafür das Wasser herkommt, darüber sagt der Wissenschaftler: „Offenbar muss es mit dem Tankwagen hierher gebracht werden.“

 

Zum Telefonieren auf den Berg

Noch eins hat sich verändert: Hin und wieder gibt es Internetempfang. „Früher musste man zum Telefonieren oder Mailen erst mit dem Geländewagen auf einen Berg fahren.“ Das sagt Morenz ganz beiläufig. Schließlich geht es ihm hier nicht um Luxus, sondern um die wissenschaftliche Erkenntnis. Und dieser „Schatz“ ist noch längst nicht vollständig gehoben, obwohl der Ägyptologe bereits mehrere Bücher zur von Kanaanäern geschaffenen Alphabetschrift veröffentlicht hat. Die haben wiederum die Hieroglyphen und Kultur der Altägypter adaptiert, die hier ebenfalls unterwegs waren.

Morenz und seine Begleiter schreiten knirschend über scharfkantiges Gestein hinauf zu einer Hochfläche inmitten einer Terrassenlandschaft. Oben angekommen kniet der Wissenschaftler nieder, um sich eine der vielen Inschriften auf einer der Stelen genauer anzusehen. Dann geht es weiter zu den Minen der Kanaanäer, die zum Teil verschüttet sind. David Sabel windet sich durch die engen Stollen, um mit der Kamera Aufnahmen von den Inschriften zu machen. „Hier gruben die Kanaanäer und Ägypter vor rund 4.000 Jahren nach Kupfer und Türkis“, sagt Morenz. Während das Kupfer vor allem für Werkzeuge verwendet wurde, diente das Türkis für Schmuck, Schminke und Grabbeigaben.

In den Stollen sind etliche Schriftzeichen der Kanaanäer zu finden. Sie „ahmten“ auf eine stark vereinfachte Weise die Hieroglyphen der Alt-Ägypter nach – mit einem Unterschied: Während es sich bei deren Inschriften um eine Kombination aus bedeutungstragenden Zeichen und Lautzeichen handelte, erfanden die Kanaanäer die reine Lautschrift. Erst Buchstabe für Buchstabe gelesen erschließt sich jedes einzelne Wort und dann der Sinn der Inschrift. Der Ägyptologe der Universität Bonn sucht hier nach Schriftzeichen, die bislang noch nicht publiziert worden sind, um seine Untersuchungen zur Entstehung der Alphabetschrift zu vervollständigen. Zudem geht es um die Erschließung des kulturellen Kontexts.

 

Sakralisierung der Landschaft

Morenz und Sabel sind nun bei einer L-förmigen angeordneten Inschrift angekommen. „Diese Schriftzeichen dienten der Sakralisierung der Mine“, erläutert Morenz. Wie die Ägypter riefen auch die Kanaanäer mit den Zeichen verschiedene Gottheiten an, die sie beschützen sollten. In der Nähe befindet sich eine weitere Mine aus dieser Zeit. Dort finden sich auf den Pfeilern weitere Zeichen.

Das fünfköpfige Team setzt sich wieder in Bewegung. Barakat kümmert sich inzwischen um ein Feuer, damit er das Mittagessen mit frischem Fladenbrot vorbereiten kann. Morenz und Sabel marschieren weiter die Hochfläche entlang zu einer Tempelanlage der Altägypter, die sich ganz in der Nähe der Minen befindet. Hier zeigt sich die Verzahnung zwischen der altägyptischen und kanaanäischen Kultur auch architektonisch: Stollen und Tempel in unmittelbarer Nachbarschaft. Mehrere Fundstücke zeugen von den engen Verflechtungen der Kanaanäer mit den Ägyptern: Sie zieren Inschriften beider Kulturen.

Unzählige Stelen ragen in den blauen Winterhimmel. Hier haben sich die Altägypter verewigt: Teilweise sind alle vier Seiten der hochstrebenden Steinquader mit Hieroglyphen versehen. Teilweise haben identische Schriftzeichen unterschiedliche Bedeutungen. Morenz möchte die Inschriften entschlüsseln, indem David Sabel und er ein dreidimensionales digitales Abbild der Tempelanlage erschaffen. Sabel nimmt deshalb mit seiner Kamera unzählige Fotos auf, aus leicht verschiedenen Perspektiven, um die Bilder später am Computer zu einem 3d-Modell zusammenzufügen.

 

Jahrtausende alte interkulturelle Kontaktzone

„Die Bedeutung der kanaanäischen Inschriften war in erster Linie, dieser Landschaft einen sakralen Raum zuzuschreiben“, sagt Morenz. „Die Arbeit in den Minen war sehr mühsam und auch gefährlich, deshalb ging es in Horizont einer Frömmigkeit darum, die Götter anzurufen.“ Serabit als interkulturelle Kontaktzone zwischen Kanaanäern und ägyptischen Expeditionen, die immer wieder in das Gebiet kamen, ist eine reiche Fundstelle mit vielen Schriftzeichen. Morenz: „Hier gibt es noch viel zu entdecken.“

Gegen 19 Uhr macht sich das Team auf den Rückweg. Beim Abstieg ins Camp dämmert es bereits. Nach der halbstündigen Pause beim Abendessen geht es am Laptop weiter: Die Wissenschaftler sichten die Daten. Anschließend geht es zügig ins Zelt, da sie am nächsten Morgen wieder losziehen – im ersten Licht des Tages. Johannes Seiler

 

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