Das „glückliche Arabien“ (Arabia felix): Der jahrhundertealte Beiname des Jemen scheint derzeit durch nichts gerechtfertigt. Kriminalität und politische Gewalt grassieren; erst kürzlich wurde ein in der deutschen Botschaft tätiger Bundespolizist von bislang Unbekannten erschossen. Woher rührt die ausufernde Gewalt in dem südarabischen Land? „Um zu dieser Debatte beitragen zu können, brauchen wir ein besseres Verständnis des dortigen Umbruchsprozesses“, sagt Marie-Christine Heinze vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn. Die Islamwissenschaftlerin und Jemen-Expertin untersucht derzeit die Demokratiebewegung in der Hauptstadt Sanaa. Die Volkswagen-Stiftung fördert das Vorhaben mit 229.400 Euro.
Nicht nur in Kairo, auch in Sanaa gibt es einen „Tahrir-Platz“, einen „Platz der Befreiung“ – und als der „Arabische Frühling“ den Jemen erreichte, ließ Präsident Ali Abdallah Salih „seinen“ Tahrir-Platz vorsichtshalber von eigenen Anhängern besetzen. Die Demokratiebewegung machte im Gegenzug den Platz vor der Universität Sanaa zum „Taghyir-Platz“, zum „Platz des Wandels“: Es entstand eine Art „Demokratielabor“ aus Zelten, Bühnen und Rednertribünen. Heinze und ihre Partner vom „Yemen Polling Center“ verfolgten mit, wie Gegenwart zur Geschichte wurde: Sie zeichneten Landkarten der Zeltstadt, dokumentierten die Manifeste der Demonstranten, sammelten Freitagspredigten und die auf den Rednertribünen rezitierten Gedichte.
Nötig ist eine differenzierte Sicht der Dinge
Mit der Beendigung von Präsident Salihs Regentschaft im Februar 2012 begann der verwickelte Wandel erst richtig: In einem „Nationalen Dialog“ versucht seither eine Vielzahl von Parteien, sich auf politische Reformen zu einigen. Beteiligt sind Anhänger und Gegner des Ex-Präsidenten; die Sunniten und Repräsentanten der schiitischen „Huthis“ aus dem Norden des Landes; Muslimbrüder, Salafis und westlich orientierte Intellektuelle; der gebirgige Norden, wo die Regierung kaum Macht hat; der ehemals sozialistische Süden, der sich seit der Wiedervereinigung vor 23 Jahren dauerhaft benachteiligt fühlt; der von Wüsten beherrschte Osten, wo die wichtigen Ölquellen liegen.
Gerade wegen der komplexen Lage rät Marie-Christine Heinze zu einer differenzierten Sicht der Dinge – auch was den Mord an dem deutschen Botschaftsmitarbeiter angeht. „Es gibt Al-Kaida im Jemen. Sie ist stärker als früher. Wer aber alles auf Al-Kaida schiebt, macht es sich zu einfach. Die derzeitige Unsicherheit im Lande, die auch Ausländer betrifft, geht auf das Konto unterschiedlicher Akteure und man muss im Einzelfall untersuchen, wer dahinter steckt.“ Die Forscherin steht in regem Kontakt mit Freunden und Bekannten im Jemen und verfolgt das Geschehen genau. Letztmalig war sie im September dieses Jahres für drei Wochen im Lande. Zu schnell wird Al-Kaida die Schuld an Ereignissen in die Schuhe geschoben, hinter denen oftmals ganz andere Akteure im Kampf um politischen Einfluss und die Ressourcen des Landes stehen. „In solche Kämpfe um strategisch wichtige Punkte sind zahlreiche politische Akteure des Jemen verstrickt.“
Im Jemen regiert der Pragmatismus
Das alles ist kein gutes Umfeld für den Demokratieprozess. Heinze dokumentiert den „Platz des Wandels“ weiterhin: Die Zeltstadt ist bis auf kleine Reste verschwunden. Manche Gruppe ist Teil der Übergangsregierung geworden, manch andere hat frustriert aufgegeben. Hier sieht die Bonner Expertin einen Ansatzpunkt, die ausufernde Gewalt im Lande zu erklären. „Die Leute warten seit fast drei Jahren auf Veränderungen, aber sie sehen keine.“ Stattdessen gebe es „eine wirklich dramatische humanitäre Krise“: Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, ein signifikanter Anteil der Bevölkerung hungert.
Eigentlich hätte der „Nationale Dialog“ im September ein Abschlussdokument verabschieden sollen – daraus wurde nichts, weil die Vertreter des Südens und der Huthis im Norden die Gespräche derzeit boykottieren. „Der Jemen steht am Scheideweg“, sagt Heinze. Falls es nicht gelingt, das überaus komplexe Gleichgewicht der verschiedenen Interessengruppen neu auszuhandeln, droht ein Bürgerkrieg. „Alle Beteiligten wissen, dass sie dann alle gemeinsam verlieren.“ Die Forscherin pflegt deshalb verhaltenen Optimismus. „Ich setze auf die Vernunft der Jemeniten. Was dort geschieht, wird selten durch Ideologie bestimmt, sondern durch viel Pragmatismus.“
Kontakt für Medien:
Marie-Christine Heinze
Institut für Orient- und Asienwissenschaften
Tel.: 0228/73-60292
heinze@uni-bonn.de
11. Oktober 2013
Der Jemen steht am Scheideweg Der Jemen steht am Scheideweg
Wissenschaftlerin der Universität Bonn dokumentiert den „Arabischen Frühling“ in der Hauptstadt Sanaa
Ein Staat am Rande der Anarchie? Ein Rückzugsraum für islamistische Gewalttäter? Das tödliche Attentat auf einen Bundespolizisten hat die Aufmerksamkeit wieder auf den Jemen gelenkt: Manchen gilt er inzwischen als Risiko für die Stabilität einer ganzen Weltregion. Marie-Christine Heinze vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn ist Expertin für das südarabische Land und beobachtet seit zwei Jahren seinen steinigen Weg zu neuem politischem Gleichgewicht. Sie sagt: „Wer alle Gewalt auf Al-Kaida schiebt, macht es sich zu einfach.“
Marie-Christine Heinze, Islamwissenschaftlerin der Universität Bonn,
- mit zwei traditionell gekleideten Bräutigamen in Bayt Baws im Jemen.
© Foto: Stephen Gracie
Alle Bilder in Originalgröße herunterladen
Der Abdruck im Zusammenhang mit der Nachricht ist kostenlos, dabei ist der angegebene Bildautor zu nennen.