Loading

Zellen in 4,7 Sekunden Schwerelosigkeit In einem einzigartigen Gemeinschaftsprojekt haben Promovierende der Uni Bonn, des DLR und der TH Köln neuronale Netzwerke am ZARM-Fallturm in Bremen untersucht

Maschinenwummern und ein lautes Rauschen geht durch den kreisförmigen Raum mit den orangefarbenen Metallwänden.

Einer von ihnen reckt kurz den Kopf nach oben. Folgt man dem Blick, wird klar, dass der Raum eigentlich eine hochgestreckte Röhre ist, Treppen führen ein Stück hinauf, dann verliert sich der Blick in einer noch engeren Röhre. Pumpgeräusche und ein langgezogenes Quietschen im rhythmischen Abstand von einigen Sekunden mischen sich unter die angespannte Atmosphäre.

Eine mehrstöckige Apparatur beherbergt die Versuchsobjekte und notwendigen Messinstrumente. Der gesamte Aufbau wird in einer druckdichten Fallkapsel verpackt – 2,5 Meter lang und 80 Zentimeter breit. Die Kapsel wird eine 120 Meter hohe Röhre hinaufgezogen.

Doktorand Johannes Striebel nimmt vorsichtig eine kleine Schale mit einer rosafarbenen Masse aus dem Transportbehälter.

Drahtseile beginnen, die Kapsel in die endlos wirkende Röhre hineinzuziehen. Es ist kurz vor 16 Uhr und der Moment, auf den alle den ganzen Tag hingearbeitet haben.

Der

Drop.

Drop – so nennen Wissenschaftler:innen einen Versuch im Bremer Fallturm ZARM. Bedeutet: Versuchsobjekte werden aus 120 Metern Höhe in einer luftleeren Röhre fallen gelassen. Im freien Fall herrscht Schwerelosigkeit, 4,74 Sekunden lang. Wissenschaftsteams aus aller Welt kommen hierfür nach Bremen, um die verschiedensten Experimente unter diesen besonderen Bedingungen durchzuführen.

Inmitten von Bremen: der 120 Meter hohe Fallturm von außen.

Doktorand Johannes Striebel von der Universitätsaugenklinik Bonn und seine Kolleg:innen von der TH Köln und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln gehören jetzt dazu:

Ihr gemeinsames Projekt „MIND Gravity“ wurde für ein Förderprogramm der Weltraumorganisation ESA ausgewählt – „Drop your Thesis“, lass deine Abschlussarbeit runterfallen.

„Man durchläuft ein richtiges Weltraumprojekt“, sagt Johannes Striebel, während er und das Team durch die um den Fallturm gebaute Halle zum Kontrollraum laufen. In der Tat taucht man dort ein in eine Welt, die die meisten Menschen nur aus dem Fernsehen oder Internet kennen.

Sie zeigen verschiedene Stationen innerhalb des Fallturms bis hin zum höchsten Punkt auf 120 Metern. Dort haben mittlerweile mechanische Arme die Kapsel in Empfang genommen und warten auf das Signal, diese in den freien Fall zu schicken.

Konzentriert nehmen die Wissenschaftler:innen in den Reihen des Kontrollraums Platz, schauen auf die Bildschirme und ihre Checkliste, führen aus der Ferne letzte Messungen an den empfindlichen Zellen durch, beraten sich leise.

Wenn der Versuch heute nicht funktioniert, war der Arbeitstag umsonst, denn der Zeitplan ist strikt, und die komplizierte Aktion lässt sich nicht beliebig oft wiederholen. Nach ungefähr zehn Minuten und einer letzten Kontrolle, gibt das Team den entscheidenden Knopfdruck. Er läutet den Fall ein, ein Monitor zeigt, wie sich die mechanischen Arme von der Kapsel lösen.

4,7 Sekunden Stille.

Dann taucht die Kapsel in einem anderem Monitorfenster wieder auf und landet in einem Auffangbecken. Erleichterter Applaus erfüllt den Raum – gefolgt von der Frage: Haben die Zellen überlebt?

Gespannt blicken die Forschenden erneut auf ihre Laptops. Wieder Beruhigung: Die Zellen sind aktiv und senden Aktionspotentiale, also Nervenimpulse, die Reize weiterleiten. „Es ist fast unglaublich, dass die Zellverbindungen nach dem Fall überhaupt noch funktionieren, denn die Zellen schlagen bei einer Beschleunigungskraft von 30 bis 50 g auf“, erklärt Laura Kalinski.

Ein Jahr lang bereiteten die Nachwuchsforschenden ihr Experiment für diese besonderen Versuchstage vor. Mit einer Technologie namens Mikroelektrodenarray (MEA) können sie ganze Netzwerke von rund 100.000 Zellen auf kleinsten Elektroden kultivieren und so die komplexen Signalvorgänge der neuronalen Zellen untereinander in Echtzeit beobachten. Da diese Signalvorgänge innerhalb von Millisekunden passieren, reichen die 4,7 Sekunden Schwerelosigkeit aus, um Änderungen in der Aktivität zu ermitteln. Die Besonderheit: Es ist das erste Mal, dass die MEA-Technologie in der Schwerelosigkeit zum Einsatz kommt.

Vor allem will das Team klären, welchen Einfluss Schwerkraftänderungen auf die elektrische Aktivität von Neuronen haben und ob es möglich ist, die Ergebnisse durch pharmakologische Eingriffe zu verändern. Dazu haben sie auf der Hälfte der Zellkulturen eine chemisch hergestellte Substanz aufgebracht – ein sogenanntes Hydroxynorketamin-Derivat, was bedeutet, dass einige Stellen der Strukturformel von Hydroxynorketamin chemisch verändert wurden.

Hintergrund: Hydroxynorketamin ist ein Stoffwechselprodukt des bekannten Medikaments Ketamin, das vor allem als Narkotikum, aber auch bei Depressionen eingesetzt wird.

Zurück im Fallturm hat der Versuch Spuren hinterlassen: Kleine Styroporkügelchen haben sich auf dem Betonboden verteilt und knirschen unter den Füßen. Sie stammen aus dem acht Meter tiefen Auffangbecken und dienen dort als Federung für die Kapsel. Mit einem starken Luftstrahl machen sich Mitarbeiter des ZARM daran, die Kapsel von restlichem Styropor zu reinigen.

Für die Teammitglieder geht es darum, ihr wertvollstes Gut, die Zellen, wieder im Transportbehälter zu verstauen. Dieser ist perfekt auf die Bedürfnisse der Zellen abgestimmt – genau 37 Grad und ein CO2-Wert von fünf Prozent bewirken, dass sie sich wohl fühlen und sich ihr pH-Wert nicht verändert.

Ein Geräusch wie aus einem Science-Fiction-Film durchfährt die Halle – hoch und schrill, als ob Luft aus einer riesigen Flasche entweichen würde, gefolgt von einem lauten Knall, wie ein Aufprall auf Metall. Nach fast zwei Wochen Arbeit am Fallturm entlockt das Geräusch den Nachwuchsforschenden kein Wimpernzucken mehr. So hört es sich an, wenn in eine ausgepumpte Röhre dieses Ausmaßes die Luft zurückweicht.

„Uns fällt jeden Tag etwas ein, was man noch besser machen kann,“ sagt Biologe Yannick Lichterfeld und tippt etwas in seinen Laptop, der an einem langen Tisch neben Kabeln, Werkzeug und Notizen platziert ist.

Es sind lange Tage für ihn und seine Kolleginnen und Kollegen. Der folgende Morgen wird wieder mit Messungen beginnen. Was dann passiert, kann niemand vorhersagen. „Aber deshalb macht man Wissenschaft“, sagt Johannes Striebel.

Svenja Ronge

Created By
Svenja Ronge
Appreciate

Credits:

Foto: Gregor Hübl / Universität Bonn