Die Siedlung in der Nähe der türkischen Stadt Konya zählt zu den ältesten dauerhaft bewohnten Orten der Welt. Die Menschen lebten dort in Lehmhäusern – dicht an dicht – und von Pflanzenbau und Viehhaltung. „Çatalhöyük ist der Leitfundplatz für das keramische Neolithikum in Anatolien, in dem bereits Tongefäße hergestellt wurden, im siebten und sechsten Jahrtausend vor Christus“, sagt Dr. Eva Rosenstock vom Bonn Center for ArchaeoSciences der Universität. „Die Siedlung lag auf dem Weg der Ausbreitungsroute des Neolithikums von seinem westasiatischen Ursprung nach Europa.“
Eva Rosenstock führte Grabung durch
Die Wissenschaftlerin hat mit einem Team von 2006 bis 2013 auf dem mit der Besiedlung des späten Osthügels überlappenden Westhügel von Çatalhöyük (ca. 6100 – 5500 v. Chr.) ein Grabungsprojekt durchgeführt. Dabei haben die Archäolog:innen dort zwei Skelette von Neugeborenen gefunden. „Sie sind die bisher einzigen vorgeschichtlichen menschlichen Überreste vom Westhügel und flossen in die Studie ein“, berichtet Rosenstock.
Das Team von Eva Rosenstock hat die Skelette fachgerecht archäologisch ausgegraben und osteologisch dokumentiert und damit den Kontext geliefert. Die Kolleg:innen aus der Archäogenetik haben die Analysen durchgeführt. „Die Methoden sind etabliert, aber das Probenmaterial ist neu“, sagt die Archäologin. „Bis vor wenigen Jahren dachte man, Zähne seien das beste Bioarchiv für Gene, aber es hat sich herausgestellt: Das Felsenbein im Innenohr als der härteste Knochen im Körper ist noch viel besser.“ Diese Vorgehensweise ermöglichte trotz der im ariden kontinentalen Klima ungünstigen Bedingungen am Fundplatz die genetischen Untersuchungen.
Tote im Fußboden
Die Bewohner von Çatalhöyük bestatteten ihre Toten direkt unter ihren Häusern. Die Ergebnisse früherer Studien an erblichen anatomischen Merkmalen der Skelette waren eine Überraschung: Die meisten Bestatteten eines Hauses waren nicht miteinander verwandt, die ähnlichsten über die ganze Siedlung verstreut. Offenbar fanden sich die Hausgemeinschaften nach anderen Regeln als dem Verwandtschaftsgrad zusammen. Spielten kulturelle, ökonomische oder soziale Faktoren dabei eine Rolle? Rosenstock: „Seit es möglich ist, solch alte DNA zu untersuchen, wurde deshalb versucht, die Verwandtschaftsverhältnisse der Hausbewohner auf archäogenetischem Weg zu überprüfen.“
Auch die beiden Neugeborenen-Skelette, die von Rosenstocks Team ausgegraben wurden, lagen in ein und demselben Gebäude. Auch sie sind, wie die aktuelle Science-Studie zeigt, nicht näher miteinander verwandt. Darüber hinaus gehören sie zum selben Genpool wie die Toten vom Osthügel. „Das unterstreicht noch einmal die Kontinuität zwischen dem Ost- und Westhügel, die wir mit unserer Grabung belegen konnten.“ Vorher ging man von mehreren Jahrhunderten Siedlungsunterbrechung und massivem Kulturwandel aus.
Auf den Überresten der Vorgänger
Die Häuser in Çatalhöyük wurden über Jahrhunderte immer auf den Mauerstümpfen der Vorgänger erbaut. Dadurch wuchsen die Hügel nicht nur rasant in die Höhe, sondern sind auch materielle Abbilder einer jungsteinzeitlichen Erinnerungskultur, in der man auf Generationen von Überresten der Vorgänger lebte - das gilt auch für die Skelette ehemaliger Bewohner. Die Frage, warum man um 6000 vor Christus mit der Tradition kurz brach und den Westhügel gründete, ist weiterhin offen.
Die aktuelle Studie in Science bestätigt nun weitgehend die Erkenntnis, dass in Çatalhöyük die leibliche Verwandtschaft nur als ein Faktor unter mehreren die Bildung von Hausgemeinschaften bestimmte. „Allerdings hatten hier im 7. Jahrtausend vor Christus weibliche Abstammungslinien eine größere Bedeutung als männliche“, berichtet Eva Rosenstock, die auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Present Pasts“ der Universität Bonn ist.
In einem Gebäude gemeinsam Bestatte waren stärker über die weibliche Linie verwandt als über die männliche. „Dies deutet auf eine größere Bedeutung der Frauen bei der Bildung von Haushalten hin“, schließt Rosenstock aus den Analysen. „Das kann man vielleicht als Matrilokalität auf Haushaltsebene bezeichnen, aber Matriarchat im Sinne von Frauenherrschaft ist das noch nicht.“ Allerdings lasse sich in vielen Kulturen von der Lokalität auf Machtverhältnisse schließen.
Lebten die Siedler von Çatalhöyük in einer von Frauen geprägten Gesellschaftsordnung? Ideen eines urzeitlichen Matriarchats gibt es schon seit der Antike und wurden auch später immer wieder aufgegriffen. „Eine große Bedeutung von Frauen in Çatalhöyük vermutete auch schon der erste Ausgräber James Mellaart, vor allem anhand der Frauenstatuetten und anderen Befunden“, sagt die Archäologin der Universität Bonn. Weibliche Bestattete sind reicher mit Beigaben versehen. Das könnte ein Hinweis auf höheren Status von Frauen sein. Rosenstock: „Nun wurden nochmal etliche Jahrzehnte später mit Material aus den neuen Grabungen und auf state-of-the-art naturwissenschaftlichem Weg Fakten vorgelegt.“
Damit stellen sich weitere Fragen: Wann und warum kam es in Europa im weiteren Verlauf der Neolithisierung zu einem Erstarken der Männerrolle und der Verwandtschaft? Und wie war die weitere Entwicklung in Westasien?