Katarakt, umgangssprachlich „Grauer Star“, ist weltweit die häufigste Ursache für Erblindung, besonders betroffen sind Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen wie beispielsweise Indien. Die günstige und effektive SICS-OP-Methode wird in entsprechenden Ländern bevorzugt eingesetzt, ist aber aufgrund begrenzter Ressourcen und Ausbildungsmöglichkeiten oft mit schlechteren Ergebnissen verbunden. „Zudem ist die Anwendung von KI auf diese Technik noch zu wenig erforscht“, sagt Privatdozent Dr. Maximilian Wintergerst, Arbeitsgruppenleiter an der Augenklinik des UKB und Studienleiter des Projektes. Denn während für die in einkommensstarken Ländern vorherrschende Technik der Kataraktchirurgie, die sogenannte Phakoemulsifikation, Algorithmen für die KI-unterstützte Videoanalyse der einzelnen Operationsphasen bereits entwickelt wurden, gab es für die SICS bisher weder Datensätze noch Algorithmen. Die neue Studie stellt jetzt mit dem „SICS-105“ Datensatz erstmals Videos von manuellen Kleinschnitt-Kataraktoperationen öffentlich zur Verfügung. Der Datensatz beruht auf Operationen von 105 Patienten der Sankara Eye Hospitals in Indien.
Die Studie zeigt, dass das innovative, in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jürgen Gall an der Universität Bonn entwickelte Deep-Learning-Modell „MS-TCN++“ unterschiedliche OP-Phasen wie Präparation der operativen Zugänge am Auge und der verschiedenen chirurgischen Schritte an der Linse mit über 85 Prozent Genauigkeit erkennen kann. „Die Analyse chirurgischer Phasen ist wichtig, weil sie einen quantitativen Vergleich zwischen verschiedenen Operateuren, Feedback zu identifizierten kritischen Schritten und die Erkennung von Abweichungen von chirurgischen Protokollen ermöglicht. Sie ist somit der erste Schritt zur automatischen Bewertung der chirurgischen Qualität“, sagt Dr. Kaushik Murali, President der medizinischen Verwaltung an der Sankara Eye Foundation India. Die transdisziplinäre Herangehensweise, die diese Fortschritte ermöglicht, wird auch von Erstautor Simon Mueller verkörpert: Nach einem MSc-Abschluss in Life Science Informatics der Universität Bonn studiert er nun in Maastricht Humanmedizin und verfolgt parallel dazu ein an der Bonner Informatik und der Augenklinik am UKB ko-betreutes Promotionsvorhaben.
SICS-155 Challenge: Neuer Meilenstein für Ausbildung und Forschung
Derzeit ruft das Forschungskonsortium zu einem KI-Wettbewerb zur Analyse solcher Operationsvideos auf. Dafür hat das Forschungsteam den ersten öffentlichen Datensatz für SICS der Studie mit chirurgischen Videos und von Hand markierten (annotierten) OP-Phasen auf insgesamt 155 Operationen mit 18 verschiedenen Phasen erweitert. Die Software zur Annotation wurde von Wissenschaftlern bei Microsoft Research India und der Sankara Eye Foundation entwickelt. Anschließend wurden die Annotationen von Augenärzten der Sankara Eye Foundation vorgenommen. „Mit der ‘SICS-155 Challenge’ laden wir internationale Teams ein, ihre KI-Algorithmen zur Phasenerkennung in 155 SICS-Operationen zu testen“, sagt Prof. Dr. Thomas Schultz vom b-it und Institut für Informatik der Universität Bonn sowie vom Lamarr Institute for Machine Learning and Artificial Intelligence. Er ist auch Mitglied in den Transdisziplinären Forschungsbereichen (TRA) „Modelling“ und „Life and Health“ der Universität Bonn. Von den Teilnehmenden erwartet das internationale Forschungsteam, dass sie einen Algorithmus zur Vorhersage chirurgischer Phasen auf der Grundlage von den zur Verfügung gestellten Videodaten einreichen und eine kurze Abhandlung über ihren Ansatz verfassen. „Mit dem Wettbewerb wollen wir den Fortschritt bei der automatischen Auswertung von OP-Videos aus Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen beschleunigen und so langfristig die Ausbildung von Operateuren sowie die Katarakt-OP-Ergebnisse verbessern“, sagt Wintergerst.
Automatische Detektion von OP-Instrumenten und Komplikationen folgt
Neben der „SICS-155 Challenge“ entwickeln die Informatiker bei Microsoft Research India und der Universität Bonn als nächsten Schritt Algorithmen zur automatischen Detektion von OP-Instrumenten und Komplikationen, wodurch die KI-basierte Videoanalyse von SICS Operationen weiter vorangebracht wird.