14. Juni 2016

Keine Odyssee von Spezialist zu Spezialist mehr Keine Odyssee von Spezialist zu Spezialist mehr

Gründung einer Spezialsprechstunde für Kinder mit einer spastischen Lähmung am Uni-Klinikum Bonn

Kinder, die aufgrund einer Spastik unter einer Gangstörung leiden, brauchen das Know how verschiedener Fachrichtungen. Daher haben Spezialisten auf Initiative der Pädiatrischen Neurochirurgie am Universitätsklinikum Bonn jetzt eine fächerübergreifende „Große Spastik-Sprechstunde“ ins Leben gerufen. Ziel ist es, dass Betroffene schnell ohne Umwege eine individuelle Therapie aus einer Hand bekommen.

Mit einer sogenannten Spastik leben derzeit 30.000 bis 40.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland, davon sind etwa 7.000 bis 8.000 Kinder gehfähig. Sie drehen allerdings beim Gehen die Beine nach innen, können die einwärts gestreckten Füße nicht abrollen oder überkreuzen die Beine bei jedem Schritt. Diese Gangstörung, umgangssprachlich auch „Scherengang“ genannt, kann auftreten, wenn aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung, der sogenannten infantilen Cerebralparese, gestörte Nervenbahnen zu einer Erhöhung der Muskelspannung führen.

Für diese Patienten gibt es jetzt am Universitätsklinikum Bonn eine fächerübergreifende Spastik-Sprechstunde unter der Leitung von Prof. Dr. Hannes Haberl, Leiter der Pädiatrischen Neurochirurgie am Universitätsklinikum Bonn: „Wir haben großes Glück, dass wir hier auf dem Venusberg-Campus alle für die Therapie einer Spastik notwendigen Spezialisten vom Kinderorthopäden über den Neuropädiater bis hin zum Physiotherapeuten und Orthesenbauer haben. Das erspart den Eltern eine Odyssee.“

Ein über viele Jahre gedachtes Therapie-Konzept

Derzeit ist Spastik nicht heilbar. Deshalb gilt es, besonders im Wachstum die spastische Muskulatur zu dehnen und deren Gegenspieler zu trainieren, um die Sehnen elastisch und die Gelenke beweglich zu halten. Das Nervengift Botulinumtoxin, besser bekannt als „Botox“, kann die Physiotherapie dabei effektiv unterstützen „Es entspannt verkrampfte Muskeln, die ein sinnvolles Training verhindern und öffnet somit ein therapeutisches Fenster, in dem Fähigkeiten erlernt und Fortschritte ermöglicht werden, die sonst durch die Spastik behindert sind“, sagt Privatdozent Dr. Richard Placzek, Leiter der Kinder- und Neuroorthopädie am Universitätsklinikum Bonn. Mit einer feinen Spritze injiziert in den Zielmuskel, lässt die Wirkung des Nervengifts etwa nach drei Monaten nach. „Doch in dem von uns favorisierten Niedrig-Dosis-Konzept sind weitere Injektionen, wenn nötig, über den gesamten Wachstumsverlauf möglich“, betont Kinderorthopäde Placzek, der falls notwendig auch operative Eingriffe vornimmt. Denn durch die Spastik bedingte Muskelverkürzungen verursachen langfristig Fehlhaltungen und Gelenkschäden: „Durch schonende Wachstumslenkung und moderne winkelstabile Implantate sind wir heute in der Lage viele Eingriffe minimal-invasiv und postoperativ sofort vollbelastbar durchzuführen.“

„Es gibt jedoch bisher nur eine Therapie, die die Dynamik der Krankheit verändert; und zwar einen minimalchirurgischer Eingriff am Rückenmark, der die Spastik reduziert und nicht nur die Folgen therapiert“, sagt Prof. Haberl, der die sogenannte Selektive Dorsale Rhizotomie (SDR) 2007 erstmals in Deutschland durchgeführt hat. Seitdem hat er 140 Kinder, davon zehn bereits in Bonn, erfolgreich mit dieser Methode behandelt.

Überaktive Nervenfasern gezielt ausschalten

Dabei kommt Prof. Haberl als einer der Wenigen in Europa mit einem extrem kleinen Zugang zur unteren Wirbelsäule aus. Dort legt er Nervenwurzeln und Rückenmark frei. Jetzt gilt es die Nervenfasern zu identifizieren, die die spastische Muskelanspannung besonders intensiv aufrechterhalten. Dazu werden bis zu 60 Nervenfaserbündel mit elektrischen Impulsen stimuliert und die Antwortsignale im Rahmen des Neuromonitoring bewertet. Auf dieser Basis kappt der Neurochirurg unter dem Mikroskop mindestens die Hälfte der sogenannten sensorischen Nervenfasern und reduziert so den für die Spastik ursächlichen Nervenreflexbogen. „Das ist der kritische Punkt und wäre ohne das spezielle Monitoring nicht möglich“, sagt Prof. Haberl. Aufgrund der umfangreichen Messungen kann der Eingriff mehrere Stunden dauern.

Etwa jedes dritte von einer Spastik betroffene Kind, das unter einer schweren Gangstörung leidet, kann von einer SDR-Therapie profitieren. „Es kann bereits einige Monate nach der Operation viel besser gehen und stehen“, sagt Prof. Haberl. Voraussetzung dafür sei aber ein durch den Eingriff erleichtertes Training der Muskulatur, „und das braucht seine Zeit.“ Die Auswahl – geeignete Kandidaten sprechen beispielsweise auf Botulinumtoxin an – sowie die Vor- und Nachbehandlung der Patienten, bis hin zur Anpassung von Gehhilfen, erfordern ein fächerübergreifendes Team. Ideales Alter für den minimalchirurgischen Eingriff ist zwischen drei und sechs Jahren – also, wenn die Kinder schon gehen können, aber noch wenige Gelenkschäden als Folge der Gangstörung haben. Doch viele Eltern wissen gar nicht, dass es diese Methode überhaupt gibt.

Unter folgender Telefonnummer ist eine Terminvereinbarung möglich: 0228/287-16515 (Renate Neitzel / Sekretariat Prof. Haberl)

Kontakt für die Medien:

Professor Dr. Hannes Haberl
Leiter der Sektion Pädiatrische Neurochirurgie
Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikum Bonn
Telefon: 0228/287-16515
E-Mail: Hannes.Haberl@ukb.uni-bonn.de

Priv. Doz. Dr. Richard Placzek
Leiter der Sektion Kinder- u. Neuroorthopädie
Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikum Bonn
Telefon: 0228/287- 14170
E-Mail: richard.placzek@ukb.uni-bonn.de

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